Jean Oser
Wie wird man Cutter? Wenn es einen zum Film drängt, dann will man doch Schauspieler werden, Produzent, Kameramann oder Regisseur. Aber Cutter? Also noch mal: Wie wird man Cutter?
„Ich hatte 1926 in Berlin den Panzerkreuzer Potemkin gesehen, und da hatte es mich gepackt. Ich musste zum Film. Mein Vater war Varietédirektor, er hatte Beziehungen, kannte viele Leute und wollte, dass ich bei dem Kameramann Curt Courant in die Lehre gehen sollte. Aber die Kamera hat mich nie so interessiert. Stattdessen begann ich eine Lehre bei der Maxim-Film in der Blücherstraße 32. Und weil ich als Lehrjunge kein Geld bekam, musste ich auch keine Botengänge machen, sondern konnte bei allem zusehen.“
Von 1926 bis 1928 studiert Jean Oser, zum Teil noch während seiner Schulzeit, bei Max Mack und Carl Wilhelm im alten Messter-Atelier in Kreuzberg. Dann wechselt er zur Tri-Ergon Film nach Mariendorf und assistiert dort bei den Dreharbeiten zu der halbstündigen Tonfilmkomödie Ein Tag Film (1929). Friedrich Hollaender und Franz Wachsmann machen die Musik, Hans Albers spielt einen Aufnahmeleiter. Sie alle stehen am Anfang ihrer Karriere. Der Tonfilm ist ein ganz neues Medium, das sich in Amerika bereits durchzusetzen beginnt. In Deutschland experimentiert man noch, und Jean Oser ist einer der ersten, der sich mit dem neuen Verfahren intensiv und praktisch beschäftigt. Im Anschluss an den Kurzfilm holt ihn Walther Ruttmann in sein Team für die Dreharbeiten zu Melodie der Welt (1929). Oser sucht Motive, organisiert und arbeitet als Aufnahmeleiter und Assistent. Er wird zu einem der wenigen Tonfilm-Spezialisten und beginnt seine Karriere als Tonfilm-Cutter für die Tobis Produktion mit Carmine Gallones Film Das Land ohne Frauen (1929) und Max Reichmanns Musikfilm Das lockende Ziel (1929) mit Richard Tauber.
Die Zeit des Übergangs vom Stumm- zum Tonfilm war für alle künstlerischen Berufe des Films auch eine Zeit der Krise und großer Unsicherheit: Wie wird der Ton klingen? Wie wird er zum Bild passen? Was kann die Kamera noch leisten? Was muss der Ton ersetzen? Tonmeister und Toncutter waren „kleine Götter“. Für Westfront 1918 (1930), seine erste Zusammenarbeit mit G.W. Pabst, ließ Oser im Schubertsaal in der Nähe des Nollendorfplatzes durch ein Orchester Geräusche und kleine musikalische Passagen für den Film aufnehmen. Eine Maschinengewehrsalve synchronisierte er mit Platzpatronen. Mit Pabst, der die Stummfilme alle noch selbst in seiner Wohnung montiert hatte, verständigte sich Oser vorab darüber. Und Pabst war zufrieden mit Osers Arbeit. Andere fühlten sich vom Cutter tyrannisiert. Die Tobis hatte ihnen weitgehende Rechte eingeräumt, denen sich die Produktion beugen musste. Wenn der Toncutter meinte, es sei Zeit für eine Großaufnahme, dann durfte er diese eigenmächtig einsetzen. „Richard Oswald schwenkte bei Dreyfuss (1930) immer wieder mit der Kamera von links nach rechts und zurück. Das habe ich alles rausgenommen. Das war mein gutes Recht. Aber im Grunde waren wir doch gegenüber den alten Filmhasen junge Schnösel.“ Die Tobis, allen voran Guido Bagier, setzte neben den rein kommerziellen Filmen auch auf die Entdeckerfreude und das Experiment. Das Schnittstudio in der Cicerostraße, in dem neben Oser auch Curt von Molo und Herbert Selpin arbeiteten, war 1929 auch ein Treffpunkt aller Filmreisenden, die sich über den Tonfilm informieren wollten. So lernte Oser Eisenstein, Dovzenko, Pudovkin und viele andere Größen des Films am Schneidetisch kennen. Sein Werkverzeichnis liest sich ab 1929 wie ein Kompendium des klassischen deutschen Tonfilms. Schnitt der deutschen Version der 3 Groschen-Oper (1930/31) von Pabst, Assistent von Hans Richter für Alles dreht sich, alles bewegt sich (1929), Schnitt von Das Lied vom Leben (1931) von Alexis Granowski, und 1931 schließlich wieder ein Film mit G.W. Pabst: Kameradschaft. Oser gehört jetzt zum festen Team von Pabst. 1932 schneidet er die französische Fassung von Die Herrin von Atlantis – in Straßburg geboren spricht Oser fließend französisch –, arbeitet dann in London bei British International Pictures an Where is this Lady (Ladislaus Vajda) und im Herbst 1932 wieder mit Pabst an Don Quichotte. „Ich hatte schon 1932 entschieden, nicht mehr nach Deutschland zurückzukehren. Ich war ja links, ich wollte aus Prinzip nicht für die Ufa von Hugenberg arbeiten, und ich las die ‚Weltbühne’ und ‚Das Tagebuch’, in denen man sich über das Programm der Nazis informieren konnte. 1933 erhielt ich in Paris einen Brief aus Deutschland, dass man mich nicht mehr beschäftigen könne. Da habe ich mich ordentlich bedankt für die gute Ausbildung, die sie mir in Berlin gegeben haben und die mich fit gemacht hat für den Film. Die sollten sich dort grün und blau ärgern.“
Bis 1939 bleibt Oser in Paris und arbeitet unter anderem mit Alberto Calvacanti, Victor Tourjanski, Max Ophüls und mit seinem alten Gefährten G.W. Pabst. Von 1939 bis 1942 dient er in der französischen Fremdenlegion in Marokko und emigriert 1942 in die USA. Auch dort findet er sofort wieder Arbeit – zunächst als Cutter für das „Office of Inter-American Affairs“, von 1945 bis 1970 als Cutter, Regisseur und Produzent von Industriefilmen, Dokumentationen, Lehrfilmen und TV-Shows. Seit 1970 unterrichtet Oser an den Universitäten von Regina und Ottawa Filmgeschichte.
1993 kam Oser erstmals nach vielen Jahren wieder nach Berlin. Viele Emigranten haben eine natürliche Scheu, die Orte wiederzusehen, von denen sie vertrieben wurden. Nicht so Oser: “Ich finde Berlin eine unglaublich schöne, spannende Stadt. Ich find’ es herrlich – und ich will unbedingt noch ‚Aal grün’ essen.“
Am 20. Februar 2002 ist Jean Oser in Regina im Alter von 94 Jahren gestorben.
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