Es wäre Übertreibung, wollte man Murnau ohne weiteres zu unseren größten Filmregisseuren rechnen; dem großen Publikum ist sein Name heute noch kaum geläufig und ob er überhaupt jemals der gefeierte Liebling der Menge wird, bleibt abzuwarten. Aber die Fachwelt wurde von vorneherein auf ihn aufmerksam und nicht minder jener Teil des Publikums, der im Film Werte sucht. Es war ein Erlebnis, als er vor Jahr und Tag im „Gang durch die Nacht“ zeigte wie beseelt die Natur mit ihren fein nuancierten Stimmungen ist. Aufsehen erzeugte auch sein phantastischer „Nosferatu“-Film durch die
Virtuosität, mit der hier die stumme Sprache des lebenden Bildes mit einer Wucht gehandhabt war, deren Eindringlichkeit sich niemand entziehen konnte. Auch der eingeschworene Gegner dieses Genre(s) nicht. Und wiederum war es ein Erlebnis, als sein „Brennender Acker“ herauskam, der erste Fall, in dem die wundervolle Innerlichkeit der Schweden sinngemäß auf den deutschen Film übertragen ist. In der Fachwelt raunte man sich da wohl zu, dass wir es hier allem Anschein nach mit einem zu tun haben werden, der noch einmal neben unseren Größten ebenbürtig dastehen wird.
Sei dem wie ihm sei; das bleibt schließlich abzuwarten; auf alle Fälle haben wir es bei Murnau mit einer sehr starken Persönlichkeit zu tun. Nicht mit einem Erfolghascher, dem zu diesem zwecke jedes Mittel recht ist, sondern mit einem Grübler, der sich so seine Gedanken darüber macht, wie man wohl unseren deutschen Film, der sich ganz offensichtlich festgefahren hat und nicht recht weiter kommt, helfen kann. Wie man es anstellen muss, ihn aus seinem wesen heraus und aus den ureigensten Bedürfnissen unserer Zeit in die richtige Bahn zu lenken.
Er fällt in mehr als einer Beziehung aus dem gewohnten Rahmen unserer Filmwelt; schon durch seine äußere Erscheinung. Man ist nicht gewohnt, unter den Filmleuten einer flachsblonden Friesengestalt zu begegnen. Man kann gewissermaßen zu den „Stillen im Lande“ des Films rechnen. Er studierte ursprünglich Kunstgeschichte, malte wohl auch ein wenig und gar nicht einmal sonderlich gut. Dann kam er ans Deutsche Theater, wo damals auch Conrad Veidt, Ernst Lubitsch und Ernst Hofmann tätig waren. Der Krieg unterbrach seine Laufbahn, er ging als Kriegsfreiwilliger mit dem ersten Garderegiment ins Feld und machte den ganzen Feldzug an der Front mit, zuletzt als Flieger. Dann übernahm er in der Schweiz, in Zürich und Luzern, Theaterinszenierungen, kam wieder nach Berlin und zwar ans Kleine Theater als Schauspieler und Regisseur. Aber bevor er seinen Vertrag dort antreten konnte, kam er zum Film, oder vielmehr der Film zu ihm, der ihn dann auch nicht wieder losließ. Das ist ja nun einmal beim Film nicht anders, wenn man ihm einmal verfallen ist. Ernst Hofmann gab den Anstoß dazu; eigentlich lag es gar nicht in Murnaus Absicht, zum Film zu gehen; Theaterregie heißt vielmehr das Ziel, das er im Auge hatte. Er hatte zunächst nicht gedacht, dass man dem Film auch nur annähernd das abgewinnen könne, was ihm für das Theater vorschwebte. Es entstanden „Satanas“ von Robert Wiene, „Der Bucklige und die Tänzerin“ von Carl Mayer, „Der Gang in die Nacht“, „Schloß Vogelöd“, „Nosferatu“ und „Der brennende Acker“. In diesem Jahre fiel Murnau die ehrenvolle Aufgabe zu, Hauptmanns letzten Roman „Phantom“ für den Film zu inszenieren, eine Arbeit, die durch eine schwere Erkrankung eine längere Unterbrechung erfuhr. Gleichwohl wird der Film noch zu Hauptmanns 60. Geburtstage herauskommen.
Er ist ein Eigenmensch durch und durch, der Murnau, in jeder Beziehung. Als ich ihn besuchte, um noch einiges Nähere über ihn zu erfahren, sah ich mich in seinem Zimmer vergebens nach einem Stuhl um; mit einer Selbstverständlichkeit, die keinen Widerspruch duldete, forderte er mich mit einer einladenden Handbewegung auf: „Bitte, legen Sie sich hin.“ Seine Gäste müssen nämlich mehr oder minder malerisch hingegossen auf dem riesigen türkischen Diwan ruhen, der eine ganze Breitseite des Zimmers einnimmt. Ich stutzte erst, dachte im Stillen an meine reparaturbedürftigen Stiefelsohlen, die bei dieser Gelegenheit zu sehen sein würden – bitte, mein Verleger hat mir seit Juni keine Teuerungszulage mehr bewilligt, das entschuldigt noch viel mehr! – und machte es mir dann auf dem Divan so bequem, wie das für einen Anfänger eben möglich war. Bald waren wir mitten im Gespräch; es drehte sich um den Film von morgen. Murnau trat mit vollster Überzeugung besonders für zwei Filmgattungen ein, für den ganz phantastischen und den ganz stillen Film. Dagegen fand er heftige Worte gegen die Verfilmung von Romanen und Theaterstücken. Auch gegen die heutigen Filmschauspieler: „Meist ist der Film zu Ende, bevor man den Schauspielern das Schauspielen abgewöhnt hat“, sagte er, und „dass doch unsere Künstler lernen wollten von den Schweden. Aber unsere Schauspieler sind doch geradezu industrialisiert, hetzen möglichst viel Filme ab und kennen dabei kaum noch künstlerische Befriedigung.“ Auch auf unsere Filmmanuskriptschreiber war er nicht gut zu sprechen; derselbe Vorwurf auch hier; „Die Filme werden nur geschrieben, nicht geschaffen und nur zu viele haben gar keine Existenzberechtigung. Es gilt vor allem, im Film unsere Zeit zu erfassen mit ihrem Hoffen und Sehnen. Jeder Film sollte eine Sehnsucht auslösen.“ – Hoffen wir, dass dieses Ziel, wie es Murnau sieht, auch noch einmal erfüllt wird.
Fritz Olimsky in : Film-Kurier, 11. 9. 1920
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