Joe May: Der Regisseur als Organisator (1919)

Joe May

Etwas über Filmregie zu sagen, ist eine diffizile Sache, denn entweder tadelt man damit andere Regisseure oder es kommt darauf hinaus, dass man sich selbst lobt (was dasselbe ist). Denn jeder hält, wenn nicht schon seine Art, so doch seinen Weg für den einzig richtigen.

Thesen über Filmregie aufzustellen, halte ich für kaum möglich. Für mich ist Filmregie eine instinkthafte Sache. Man muss es in den Fingerspitzen haben. Jedes einem auch noch so grundlegend erscheinende Prinzip kann im nächsten Moment über den Haufen geworfen werden müssen, wenn man fühlt, dass es nötig ist. Das Gefühl ist alles.

Was ist ein guter Regisseur? Ein guter Regisseur ist der, der nicht nach dem Manuskript arbeitet. Der zwar das Manuskript genau im Kopf hat, aber aus dem Gedanken des Ganzen heraus ständig schöpferisch tätig ist und ummodelt.
Ein guter Regisseur ist der, der nie sagt, eine Aufnahme ist nicht zu machen. Es fehlt das und das. Wenn er ins Atelier kommt und es liegt nur ein „Holzklötzchen“ da, dann muss er auch damit die Aufnahme machen können. Sozusagen.
Regie ist Organisation. Der Grundgedanke ist Großzügigkeit. Regie ist für mich die Kunst, sich die Leute herbeizuziehen, die man braucht und sie mit seinem Geist zu beleben. Ein guter Regisseur ist der, der es versteht, sich eine solche großzügige Organisation zu schaffen, das Räderwerk einer Maschine, die arbeitet und an deren Steuer er sitzt. Regie ist Leitung, ist Führung.

Ich sehe wohl, wenn ein Darsteller an seinem Kostüm etwas Unrichtiges hat, aber es ist nicht meine Sache, es abzuändern. Dazu habe ich einen besonderen Mann, einen Inspizienten, der nichts anderes zu tun hat, als auf solche Dinge zu achten und der nur dafür bezahlt wird. Meine Aufgabe ist es nur, diesen Mann auch anzustellen und einen richtigen Mann für diesen Zweck zu finden, ihn eventuell heranzubilden.
Der Regisseur leitet die Bewegungen des Schauspielers. Er gibt ihnen den Ton an, der für den Film passt.
Ich halte das ganze Star- und Serien-Filmwesen für einen großen Übelstand. Jeder kleine Star will nur Hauptrollen in eigenen Filmen spielen, das ist natürlich. Möchte man einen solchen Star seiner persönlichen Eigenart wegen einmal für einen großen Film engagieren, wo er schon neben anerkannten „Kanonen“ in diesem Rahmen natürlich nur eine weniger beachtete Rolle spielen, die aber trotzdem sehr groß sein kann, so weigern sich diese Solostars. Das ist lächerlich.
Ich bin der Meinung, dass die nahe Zukunft darin eine große Änderung bewirken wird und für alle mittleren und kleineren Unternehmungen dieser Art keine allzu rosigen Wolken am Himmel stehen.
Es muss sich in einem großen Film alles um zwei bis drei Schauspieler gruppieren; diese müssen aber in jeder Weise tragende Hauptpersonen des Films sein. Eine große Anzahl mittlerer Rollen zersplittert die Wirkung des Films.
Großaufnahmen? Sie sind sehr wichtig. Doch sollen sich deutsche Regisseure hüten, sie zu übertreiben und die Wirkung dadurch herabzusetzen.

Man kann nicht von Filmregie reden, ohne seinen Blick dorthin zu wenden, wo wir ungeheuer viel lernen können und wir noch restlos eine Überlegenheit anerkennen müssen, auf den amerikanischen Film.
Man soll nicht von amerikanischer Nachahmung reden, wenn man den amerikanischen Film als Beispiel heranzieht; aber etwas, was überlegen ist, nicht anzuerkennen, ist falsch und kurzsichtig.
So möchte ich von dem Film Intolerance sprechen, den ich gesehen habe. Dieser Film ist das Größte und Unerhörteste auf dem Gebiete der Filmregie, was bis jetzt geschaffen ist. Ich meine nicht die Größe der Bauten, die Menge der Komparserie und überhaupt die unerhörte Fülle, wenn er auch schon darin das Nonplusultra darstellt; sondern ich meine die Qualitäten dieses Films in Bezug auf seine Regiekunst. Wenn man eine Regisseurschule einrichten wollte, so müsste man diesen Film als Lehrfilm vorführen und daran Vorträge und Demonstrationen über Regiekunst halten.
Die Liebe und Sorgfalt, mit der z.B. darin die kleinsten unwichtig erscheinenden Dinge behandelt werden, ist vorbildlich und trotz aller enormen Fortschritte bei uns noch nicht erreicht.
Der Regisseur ist die Seele von allem. Griffith, der große amerikanische Regisseur, hat eine gewaltige Zahl Unterregisseure, die ungeheuer tüchtig von seinem Geist beseelt, ungeheure Arbeit verrichten. Er ist nur der Geist, der über dem Ganzen schwebt.

Von allein macht kein Mensch etwas. Wenn die Wolkenstimmungsbilder in dem Film rein technische Meisterarbeit der Operateure erscheinen, so ist dies doch alles auf Konto des einen zu setzen, der den Ton für alles, auch dafür, bis ins Kleinste angibt, des Regisseurs.
Ich verlange von den Künstlern völlige Hingabe an ihre Arbeit. Auch darin sind uns die Amerikaner voraus. Nur wenn man den Schauspieler ganz zur Verfügung hat, er den ganzen Tag um uns ist (und nicht schon das Auto für eine nächste Aufnahme bei einer anderen Firma, wo er an demselben Tage auch noch filmen will, schon unten tutet), haben wir ihn so, wie wir ihn wollen. Das ist der Vorzug der etwas abgelegenen Filmstadt, in der man tagelang, ja wochenlang wohnt und lebt. Da entwickelt sich wirkliche Cooperation, da sind die Momente der Ablenkung weggefallen.

Ich bin nicht blind für die Schwächen und Fehler des amerikanischen Films, ich weiß, daß er ein ausgesprochener Publikumsmisserfolg ist, weil er letzten Endes kalt lässt. Weil in ihm durch das Ineinandersetzen von drei oder mehr großen Zeitepochen das Publikum verwirrt ist. Wir können daraus lernen, wie man es nicht machen soll. Dem Amerikaner fehlt das beschaulich Herzliche, er ist zu derb-kühl. Das, was einen Film fesselnd macht, daß bei ihm auch das große Kinopublikum warm wird, hat er nicht: unser sogenanntes gutes deutsches Herz; wenn der Amerikaner das versucht, wird er süßlich.
Wenn man beides vereinigen könnte, die Größe mit dieser Wärme (auch bei uns „Spielfilm“ genannt), so könnten wir die Amerikaner übertreffen.

Alles in allem bin ich der Meinung, daß die deutsche Filmindustrie gegen die Amerikaner einen schweren Stand haben wird, daß es aber bei scharfer Selbsterkenntnis unserer Fehler und Vorzüge auch bei uns Leute gibt, die imstande sind, den Kampf mit dem amerikanischen Film jeder Art und Größe aufzunehmen.

In: Film-Kurier, 12. August 1919, Nr. 57