Der Weg zum künstlerischen Filmmanuskript

Der Weg zum künstlerischen Film führt über das künstlerische Filmmanuskript. Diese Selbstverständlichkeit bedarf immer und immer wieder der Erwähnung, weil der Wert des künstlerischen Filmmanuskriptes in Fachkreisen anscheinend immer noch nicht anerkannt ist. Ausnahmen bestätigen nur die Tatsache, dass die Filmfabrikanten rein wirtschaftliche Ziele verfolgen, wobei die künstlerische Seite des Films nur zu oft außer Acht gelassen wird. Die Entwicklung des Films fordert dringend das Einschlagen neuer, ernster Wege. Mit hochtrabenden oder nichtssagenden Schlagworten können keine künstlerischen Erfolge erzielt werden; es ist endlich Zeit, zur Tat überzugehen. In hohem Maße wünschenswert wäre es, wenn sich die Filmindustrie schon heute zu dieser künstlerischen Entwicklung bekennen würde. Aufzuhalten ist dieser Prozess nicht mehr, er wird sich durchsetzen, auch gegen den Willen derer, die heute noch für die Art der Produktion verantwortlich sind.
Vielleicht schlägt der folgende Vorschlag dazu bei, der Filmkunst den Weg zu ebnen. Das Verwertungsrecht eines Filmmanuskripts darf von den Autoren nicht mehr den Filmfabriken überlassen werden. Die Buchverlagsanstalten müssen sich der Sache annehmen, und, wie das beim Theater ist, die Vermittlungsstelle zwischen Filmautor und Filmfabrikant bilden. Die Filmfabrikanten erwerben also vom Verlag das Aufnahmerecht eines Filmmanuskriptes gegen Zahlung einer Tantieme. Die hauptsächliche Neuerung würde darin bestehen, dass dasselbe Manuskript, wiederum genau wie beim Theater, an mehrere Filmfabriken zur Aufnahme abgegeben werden könnte. Das würde zu außerordentlich interessanten Versuchen führen. Nehmen wir zum Beispiel an, die X-Filmfabrik erwirbt einen Film von Gerhart Hauptmann und lässt ihn von Lubitsch in Szene setzen. Die künstlerische Ausgestaltung übernimmt Lovis Corinth. Die Hauptrolle spielt Henny Porten. Derselbe Film wird auch von einer anderen Filmfabrik erworben, die ihn von Karlheinz Martin inszenieren lässt unter künstlerischer Mitarbeit von Oskar Kokoschka. In der Hauptrolle Asta Nielsen. Das würde nicht nur das geistig hochstehende Publikum interessieren, sondern auch in wietesten Volkskreisen mit Freuden begrüßt werden. Ernste Künstler würden sich fraglos mit dem Film in weit größerem Umfange beschäftigen als dies bisher geschehen ist; denn es würde für gute Arbeiten ein entsprechend künstlerischer sowie finanzieller Erfolg gewährleistet sein. Fraglos würde auch der Ehrgeiz der Filmregisseure und Filmfabriken angespornt werden, und – vor allem – das Publikum würde künstlerisch erzogen werden.
Bei der Wichtigkeit, die diesem Problem innewohnt, haben wir einige hervorragende Persönlichkeiten gebeten, sich zu dieser Frage zu äußern. Die Antworten werden wir demnächst veröffentlichen.
Erich Kraft in: Nationalzeitung – 8 Uhr Abendblatt, Berlin, 4. Juli 1920