Marlene von Marlene Dietrich (1931)

Vorbemerkung:
Der Artikel erschien im Vorfeld der deutschen Premiere von Morocco. Bei dem im Text genannten Film Entehrt handelt es sich um Dishonored, der in Deutschland noch nicht angelaufen war und dort später unter dem Titel X-27 lief. Ob der Text von Marlene Dietrich selbst verfasst oder nur von ihr autorisiert wurde, ist nicht klar.

Deutsches Originalplakat zu Morocco

Glauben Sie mir, es ist verwirrend und benimmt den Atem, wenn man sich plötzlich, nach einer Reihe ruhiger und gleichmäßiger Jahre, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit findet. Man hat sein ganzes bisheriges Leben in einem kleinen gewohnten Kreis verbracht, Familie, Freundschaft, Arbeit haben den ganzen Inhalt des Daseins bedeutet – und von einem Tag zum anderen ist man aus der Stille herausgerissen und hat aufgehört, eine Privatperson zu sein. Vielleicht hat man ein Buch geschrieben, das der Saisonerfolg geworden ist. Oder man hat ein Gemälde geschaffen, das jeder gesehen haben muß. Man hat auf der Bühne das Publikum mit sich gerissen, man hat im Film eine besondere Rolle gespielt, oder man hat einen Mord begangen – und mit einem Male ist man für die Welt ein ganz anderer Mensch, mit anderen Werten und anderen guten und schlechten Eigenschaften. Alle Bedingungen des Lebens müssen geändert werden und ändern sich vielleicht morgen schon von neuem.
Die Marlene Dietrich, die man kennt und für die man sich interessiert, hat bisher drei Gesichter. Sie ist die Kabarett-Sängerin im Blauen Engel, die Amy Jolly in Herzen in Flammen und die Spionin in Entehrt.
Sie spielte an einer Berliner Bühne, als Josef von Sternberg, der große Filmregisseur, sie sah und sie als Partnerin für Emil Jannings in einem neuen Film haben wollte. Sie spielte diese Rolle. Sie kam nach Hollywood und spielte zwei weitere Rollen. Das ist das Leben dieser Marlene Dietrich bis heute.
Diese Frau existiert nirgends anders als auf der Filmleinwand.
Ich kenne eine andere Marlene Dietrich. Sie wurde geboren, ging zur Schule, nahm Musikunterricht und wollte die Konzertlaufbahn ergreifen. Überanstrengung ihrer rechten Hand zwang sie, ihr Studium abzubrechen. Sie nahm bei Max Reinhardt Schauspielunterricht und ging zur Bühne. Sie heiratete und bekam eine Tochter. Sie spielte Theater und filmte ab und zu, und war sehr glücklich. Außerhalb Berlins und vielleicht auch Wiens war ihr Name nur sehr wenig Leuten geläufig.
Diese Marlene Dietrich kenne ich ausgezeichnet. Ich bin mit ihr so vertraut wie mit keinem anderen Menschen. Mit der anderen, der neuen Marlene Dietrich, bin ich lange nicht so gut bekannt. Denn ich habe sie bislang nur in ihren Filmen gesehen.

In: Reichsfilmblatt, 29. August 1931, Nr. 35