Norbert Jacques: Regisseur und Dichter (1923)

Norbert Jacques

Noch ist der Film für den Menschen von Bildung und Geschmack ziemlich allgemein nicht mehr als eine Angelegenheit der Augen. Darüber täuschen die literarisch angemalten kommerziellen Machenschaften etwa in Berlin nicht. Wir sind noch erst mehr gepackt von dem noch Neuen seiner Technik als von seinem Inhalt, der Requisiten alten Guts in neues Gewand verhüllt vor uns aufstellt. Sie sind jetzt uns noch erträglich, weil die Wiedergabe neuartig ist, und die Empfänger der Seele, die Augen, sich noch nicht am Reiz ihrer ungewohnten Rolle abgenutzt haben.
Noch ist der Film zu sehr in Abhängigkeit vom Wert, mit dem er seinem Wesen nach nichts zu tun hat, und das für ihn keine andere Aufgabe zu erfüllen hat als für die Musik: Namengebung.
Auf dem Weg zu seiner eigensten Eigenart muss er sich immer mehr frei zu machen versuchen von dieser Eselsbrücke. Sonst wird er nie er selbst und Kunst werden können.
In seinen edelsten Möglichkeiten wird das Kino eine Schwester eher der Musik als des Wortes. Die Augen sind Zwillingsgeschwister der Ohren und nach der Tiefe führt dieselbe Blutbahn die Wahrnehmungen zur Seele als der Verschmelzungsstelle von Empfinden und Geist.
Aber erst muss die von innerer Wahrheit schöpferische Sprache geschaffen werden, die über diesen Weg verständlich wird; die eigene Sprache des Bildes, die so stark den göttlichen Odem in sich trägt, dass das, was sie darstellt, schlechtweg nicht anders ausgedrückt werden kann als im Bild, nicht anders als im Bild denkbar ist. Geschehnisse zwischen Wänden. Ereignisse durch Landschaften. Zwiesprachen zwischen Wolken und Erde, das Wehen der Natur um den Menschen, alles ineinandertauchend, von einem Blick umarmt und ins Innere getragen, während das Wort die Dinge nebeneinandersetzen und mit den Hilfen des Intellektes die letzte schöpferische Verbindung herbeiführen muss. Damit kann man durch das Lichtbild dichten. Das ist das Wort, nein, der Ton, nein, die Dichtwelle, mit der diese Bildmusik zu erschaffen ist. Der Rohstoff ist nach wie vor das menschliche Herz.
Der Filmregisseur, der diesen Zauber entdecken wird, wird der Mann der Zukunft sein. Denn er macht seinen Dichter und seine Darsteller verständlich zwischen Tibet und Anden, zwischen den Lofoten und dem Feuerland. Und das hat noch keine Kunst vermocht, die Erlebnisse darstellte.
Seinen Dichter?
Gibt es beim Film Dichter? Nein, im Gegenteil, die Dichter werden ängstlich davon ferngehalten. Wenn sie einmal einen Stoff geben, schiebt man sie beiseite und stellt Menschen an als Zimmerleute, die das feinere Gewese aus des Dichters Geblüt mit einem groben Gerüst umbauen müssen. Ja, diese literarische Zimmermannsarbeit ist heute ein eigener Beruf geworden. Denn sie meinen beim Film, es könne nicht dick, nicht schmierig, nicht plump genug sein!
Unsere wirklich großen Filmregisseure bitte ich einmal sich eindringlich vorzustellen, dass sie das Zeug, das sie mit hehrstem Ernst und aufsaugender Tatkraft im Kinoatelier inszenieren, auf eine Bühne zu bringen hätten: dies Zeug, angefüllt von trivialer Verblödetheit in seinen menschlichen Problemen, sterbend an schreckenerregender Dürftigkeit der Erfindung, riechend von der Verlogenheit seiner Sentimentalität und voller Rohheit der Psychologie.
Ob einer von ihnen sich vergeben würde, das zu tun? Wie gesagt, noch zieht das Neue an. Aber wie lange deckt die Technik noch die Vergröberung und Verkitschung? Bei den ersten Fahrrädern musste man selber laufen, und die ersten Autos sehen heute für uns aus wie närrisch gewordene Badewannen. Nach und nach aber wuchs die Form um den Inhalt und schmolz Inhalt und Bild ineinander zu einem.
Es kann auf die Dauer keinen Film geben, in dem das Wesentlichste zur lästigen Nebensächlichkeit gemacht wird, und das Wesentliche ist die Phantasie, die es vermag, Symbole der Erschaffung zu finden und neben unser Leben Körper an Körper ein sublimierteres Leben Seele an Seele zu stellen. Natürlich muss der Film als nur von der Bewegung lebend, auch nur Tat geben. Aber diese Tat muss die Wahrheit ihrer Abstammung in sich tragen; denn die Tat ist die Tochter der Seele.
Es wird nicht eine Frage von Macht werden, wenn einmal ein Filmregisseur großsinnig, klug und ehrlich erkennt, dass er nur zusammen mit einem Dichter etwas zu schaffen vermag, das von der Leinwand ins Blut huscht, und er den Dichter um seine Mitarbeit bittet. Nicht der Regisseur ist der Stärkere oder der Dichter. Sondern beide sind sich ergänzende Kräfte, und lange Zeit werden Takt und guter Wille die Zusammenarbeit beschirmen müssen.
Der Regisseur bringt seine Erfahrung, seine Erkenntnis der Möglichkeiten und Unmöglichkeiten, der Dichter die Kraft seiner Phantasie und den Wunsch seines Herzens., seine Gestaltung dem Bewusstsein anderer in möglichster Eindringlichkeit vorzuführen, in das gemeinsame Werk. Der Regisseur wird lange Zeit der Führende sein müssen, weil er die Materie kennt. Der Dichter, noch des Wortes gewöhnt als einzigen Ausdrucksmittels, muss seine Erfindungsgabe umstellen.
Unsere guten Filmregisseure haben zusammen mit den Photographen – deren Mitwirkung an einem Film vielleicht noch unterschätzt wird, denn sie sollen zugleich etwas vom Dichter und vom Regisseur haben und sind die ersten Mittler beider – in Bruchstücken schon heute Vollkommenes erreicht. Unsere Filmdichter haben beim ersten Buchstaben des Lichtalphabetes anzufangen; das ist nicht zu leugnen. Aber, Regisseure, lasst sie einmal unter den Fittichen eures guten Willens anfangen!
Ich meine dabei durchaus nicht, dass jeder Wortdichter auch ein Filmdichter sein kann, doch ist aus den Werken klar zu erkennen, wem das Auge gehört, das auch auf den Film einzustellen ist.
Ich sitze an einem Schreibtisch, von dem aus ich über meine blühenden Wiesen die im Maiendunst vergehenden Umrisse der Alpen über dem Bodensee sehe. Sie stehen da in meinen Augen wie sich noch verheimlichende Brückenbögen in die Welt. Und sich vorstellen, dass man an einem solchen Schreibtisch in einem winzigen bayrischen Dorf Dinge ersinnen kann, die über Sprachen und Grenzen hinweg Menschen jenseits in der fremden Welt so gut in den Bann meiner Phantasie bringen wie die Einwohner des kleinen Seestädtchens drunten: Dinge, die jenen Menschen wie diesen von meinem Blut die Seele speisen – das ist eine heimliche Kraft, fähig, die Bögen der Alpen aus dem Dunst zu reißen und sie zu wirklichen Brücken zu machen, über die man zu allen Menschen kommt.
Dichtung, Gedankenausdruck sind Sklaven der Sprache, und die ist von 10 bis 50 Millionen Menschen bis zu den nächsten 10 bis 50 von Grenzen umzirkelt, über die es keinen Pass gibt. Aber die Augen sind das einzige, was aus den Zeiten vor dem Turm von Babylon gemeinsam der Menschheit blieb. Ihr Reich aber ist die Tat.
Deshalb ist der Film, d.h. die Kunst, die diese Tat unmittelbar zu gehen vermag und mit ihrem Bild wirken kann wie ein Musiker mit seinen Tönen, wenn auch die neueste, so doch in dem Ausmaß und der Zukunft die größte der Künste. Sie reißt einiges vom babylonischen Turm wieder ein. Aber bis dahin müssen die Regisseure noch erst die Möglichkeiten ihrer eigenen Größe auch erkennen lernen.

BZ am Mittag, 24. Juni 1923, Nr. 169 (Beilage Film-BZ)
Mit freundlicher Genehmigung von Dr. Günther Scholdt