Eisenbahnschienen, endlos; zunächst ein Paar, dann, als die auf den Schienen fahrende Kamera sich hebt, ein zweites parallel laufendes Paar. Jetzt kommt auch die Landschaft in den Blick, winterlich gefleckt, mit düster aufsteigenden Wäldern. Nicht romantisch, sondern öde, einsam, fast das Ende der Welt. Hier arbeitet der Bahnwärter (Werner Krauß). Nachts geht er die Schienen mit einer Sturmleuchte ab; wenn ein Zug kommt, gibt er ein Signal. Sein Gang ist schwerfällig, als trage er eine schwere Last an seinen Beinen.
Seine Frau (Hermine Stratmann-Witt) tritt aus dem Bahnwärterhaus, holt die Wäsche von der Leine, legt sie zusammen in einem Raum, der zugleich Ess- und Wohnzimmer ist. Die Kamera erfasst die ganze Szenerie des Raumes; vorne ein Tisch, vor der hinteren Wand ein Sofa und als Wanddekoration drei in einem offenen Dreieck angeordnete Rahmen mit Fotos der
Verwandten. Akkurat in der Mitte hängt ein gemaltes Porträt. Es herrscht penible Ordnung. Die Tochter (Edith Posca) kümmert sich um den Kachelofen, der Bahnwärter sieht aus dem Fenster. Keiner sieht den anderen an, niemand spricht. Das Leben läuft ab wie ein Uhrwerk, freud- und ereignislos. Mit leerem Blick sitzt der Bahnwärter mit Frau und Tochter am Esstisch.
In der ersten Großaufnahme beginnt ein Schreibtelegraf zu arbeiten, ein glänzendes Maschinchen aus der Moderne; während der Bahnwärter das Telegrafenband liest, deckt die Frau mit deutlicher Alltagsgeste seinen Suppenteller ab, damit die Suppe nicht kalt wird. Der Eisenbahninspektor wird angekündigt und soll bei der Familie wohnen. Gleich läßt der Wind ein Fenster zerspringen; die Tochter bringt die Scherben in der Schürze weg. Die Frau richtet für ihren Mann das Sofa für die Nachtruhe ein und geht in ihr karg eingerichtetes Schlafzimmer mit großem Marienbild über dem Bett. Der Bahnwärter kontrolliert die Gleise und legt sich schlafen.
„Ein Drama in fünf Tagen“ lautet der Untertitel des Films Scherben und dieser erste Akt trägt den Titel „Ein Tag“. Er schildert einen Arbeitstag, zu dessen Normalität auch das Zerbrechen der Fensterscheiben gehören könnte, wäre da nicht der Titel des Films und eine halbnahe Einstellung auf die Scherben in der Schürze des Tochter, die auf die besondere Bedeutung hinweisen. Die einzige Großaufnahme zeigt den Schreibtelegraphen, die Verbindung zur sonst ausgeschlossenen Welt. Haus, Familie und Alltag wirken wie exterritoriales Gelände, gefilmt im Stil und mit der Sachlichkeit eines Lehrfilms: dies ist die Arbeit, dies das Haus, hier die Familie und ihr Alltag.
Lupu Pick inszenierte mit Scherben den ersten Kammerspielfilm, wobei solche Anfangssetzungen nie ganz ohne Zweifel sind. Der Begriff Kammerspiel kam aus dem Theaterbereich; im Gegensatz zur großen Bühneninszenierung setzt das Kammerspiel auf wenige Personen mit einem überschaubaren Lebensbereich und die psychologische Verdichtung ihrer Handlungen. Das war Anfang der 20er Jahre, als das Kino in Deutschland von Abenteuer-, Sensations- und Detektivfilmen, Komödien, Chinoiserien und historischen Stoffen quer durch die Menschheitsgeschichte geprägt war, schon ein Wagnis.
Der Drehbuchautor Carl Mayer hatte für Pick vor Scherben das Drehbuch zu Der Dummkopf (nach Ludwig Fulda) geschrieben. Pick war von der Qualität so angetan, dass er eine öffentliche Lesung des Drehbuchs veranstaltete. Film wie Drehbuch gelten heute als verschollen. Scherben war der Auftakt einer Trilogie von titellosen Kammerspielfilmen, deren zweiter Teil Hintertreppe (1921) von Leopold Jessner inszeniert wurde, während der dritte Teil Sylvester wieder unter der Regie von Lupu Pick entstand. Andere Quellen nennen Sylvester als zweiten und Der letzte Mann (1924; Regie: F. W. Murnau) als dritten Teil der Trilogie.
Gänzlich ohne Titel ist auch Scherben nicht. Aktangaben, kurioserweise jeweils nach dem abgelaufenen Akt, und Zeitangaben zu Beginn eines neuen Aktes (Die Nacht des folgenden Tages – Der Morgen des dritten Tages – Der Abend des vierten Tages – Der Morgen des fünften Tages) strukturieren den Ablauf des Geschehens. Für Scherben wurde auch eine weitere, wenig bekannte Neuerung eingeführt. Henny Porten erwähnt in einem Interview über die Premiere von Rose Bernd am 5. Oktober 1919: „„Damals war es noch so, dass ein Film nicht hintereinander lief, sondern dass nach jedem Akt abgebrochen und hell gemacht wurde bis die neue Filmrolle wieder eingesetzt war.“ Scherben wurde ohne diese Pausen gezeigt. Dadurch wurde der Film zu einem geschlossenen Werk, aber die Praxis der unterbrechungsfreien Vorführung setzte sich erst 1923 mit Karl Grunes „Die Strasse“ (1923) endgültig durch.
Die bis auf eine Ausnahme fehlenden Dialog- und Erzähltitel reduzieren die Haltung auf eine lakonische Sachlichkeit; die Konzentration richtet sich auf die Körper-, Objekt- und Filmsprache. Durch Kameracaches selektiert Pick gelegentlich Elemente der Szene, bevor er das Bild ganz öffnet. Langsame Auf- und Abblenden wirken nicht nur als zeitgemässe Konvention, sondern strukturieren die Abläufe der einzelnen Tage.
Vom Bahninspektor (Paul Otto), einer blassen und etwas blasierten Person, sieht die Tochter zunächst nur die glänzenden, hohen Schaftstiefel; sie putzt die Treppe, er steigt zu ihr hinab. Am Abend stellt er die Stiefel wie zum Zeichen der anstehenden Verführung vor die Tür. Die Verführung selbst geschieht während der Bahnwärter die Strecke kontrolliert.
Pick lässt die Objekte die verborgene Geschichte erzählen. Eine Vogelscheuche vor dem Haus zeigt überdeutlich auf das Fenster hinter dem der schändliche Akt vollzogen wird. Die Mutter, entsetzt über das von ihr entdeckte Geschehen, flieht in die Nacht hinaus zu einem Flurkreuz und erfriert im Gebet. Nichts von alledem bemerkt der Vater als er nach Hause kommt und sich zur Ruhe legt. Nur das rotierende Federblatt auf der Rückseite eines Weckers zeigt am Morgen die Abwesenheit der Mutter an.
Auch als der Bahnwärter seine tote Frau entdeckt, nach Hause holt und dann auf einem Schlitten in das Dorf bringt, reduziert Krauss seine Körpersprache und Mimik auf wenige Elemente; er hebt müde die Arme, schaut den Inspektor hilf- und ratlos an, sitzt dann versteinert vor dem leeren Bett. Edith Posca allein fällt in die Konvention des expressionistischen Spiels; als der Inspektor sie abgewiesen hat, steht sie händeringend und auf Rache sinnend im Hausflur und verrät dem Vater geduckt und mit wild aufgerissenen Augen die Schande. Krauss dagegen bleibt nach einem kurzen Erschrecken der emotionsarme Bahnwärter. Er bringt den Inspektor um, nimmt seine Sturmlampe und hält den nächsten Zug mit einem roten Warnlicht an. „Ich bin ein Mörder“ lautet der einzige Sprechtitel. Im Zug tafelt angeregt eine bessergestellte Gesellschaft, die das Drama wie eine kurze Meldung auf den bunten Seiten einer Zeitung wahrnimmt.
Picks Film ist mit seiner lakonischen, bewußt sachlichen Bildsprache und der Abkehr von großen Spielgesten ein für die frühen Jahre der Weimarer Republik außergewöhnliches Sozialdrama ohne falsche Larmoyanz, ohne Klage oder Anklage, allerdings auch ohne das Angebot eines Mitgefühls. Vom Chaos der Triebe, das Kracauer in den Kammer-Spielfilmen Carl Mayers sah, ist in Scherben wenig zu sehen. Der Film zeigt ein trostloses, kleinbürgerlich festgefügtes System, das durch den Eingriff der sachlich-kalten Außenwelt zerbricht; nicht die Triebe, sondern die sachlich-eigennützige Art, mit der Inspektor mit seiner Verfehlung umgeht, setzt die Gewalt frei, mit der die Verletzung geheilt werden soll. Das Drama der Verführung spiegelt auch den Wandel, der sich in der Zusammensetzung des Filmpublikums vollzogen hatte. In den „Dienstmädchenfilmen“ der zehner Jahre wäre die „Gefallene Tochter“ des Hauses verwiesen worden. Hier spielt ihr weiteres Schicksal keine Rolle, die Familie zerbricht an dem Einbruch des kaltschnäuzigen Beischlafdiebes.
In seiner scheinbar teilnahmslosen Schilderung des Kleinbürger-Dramas war Scherben seiner Zeit weit voraus. Von den meisten Kritikern hochgeschätzt, war der Film kein geschäftlicher Erfolg. „Die großen Filme von Lupu Pick wie Scherben und Sylvester hatten in den Großstädten ein begeistertes Publikum, aber sie brachten letzten Endes keine großen Einnahmen“, erinnert sich Gerhard Lamprecht. Den Theaterbesitzern waren sie nicht nur zu traurig, sondern auch zu kurz. Der Film, so klagt ein Theaterbesitzer, sei nun mal unbestritten das Theater der kleinen Leute, die einen abendfüllenden Film von 2.000 Metern erwarten. Filme mit 1400 Metern seien definitiv zu kurz. Scherben hatte eine Länge von 1.356 Metern.
In: Booklet zur DVD Der Gang in die Nacht (1920. R: F.W. Murnau) und Scherben. Edition filmmuseum 97