Städte- und Straßenbau im Film, das klingt nach einem Kultur- oder Unterrichtsfilm, ist aber eines der schwierigsten Probleme eines künstlerisch erzählenden Spielfilms. Der Film berührt sich auch darin mit der epischen Literatur, dass auch da die sachliche Umwelt, das Milieu, zum psychologischen Ausdruck werden soll, also nicht als absoluter Realismus, sondern in der Stimmungsfarbe des darin dargestellten Erlebnisses und durch das Gefühl des gerade im Mittelpunkt stehenden Akteurs gesehen erscheinen muss. Eine erfundene Handlung in den nächstbesten „echten“ , aber nicht abgestimmten Landschaften oder Straßenbildern zu photographieren, geht zur Not nur in Komödien oder Detektivfilmen, lässt aber selbst dort den Stilbruch noch merkbar sein. Der Bau im Atelier setzt der Illusion wiederum allzu enge räumliche Grenzen. Eine gute erste Lösung des Problems brachte seinerzeit der Caligari-Film. Da seine Vorgänge meist psychopathische Halluzinationen waren, brauchten Maler und Regisseur der Phantasie überhaupt keine Schranken zu setzen.
Technisch schwieriger hat sich der Regisseur des Stern-Films, Karl Grune, die Aufgabe in seinem werdenden neuen Drama Die Straße gestellt. Hier handelt es sich in der Erzählung um einen lebensverkümmerten Mann, der eine einzige Nacht lang aus dem Zimmergefängnis seiner Ehe und seines glanzlosen Daseins ausbricht in das abenteuerliche Erlebnis einer Großstadtstraße. Stadt und Straße, mit ihren Lichtern, ihren Lockungen, ihrer biedermeierischen Phantastik, mit der sie sich in den Augen eines solchen kleinen Abenteuers für eine Nacht spiegeln, das war nicht leicht zu bauen. Grunes Helfer war dabei der Architekt Goerge.
Für die Stadt wählten sie ein plastisches Modell in voller Atelier-Breite, Häuserblocks, Kirchtürme, Kuppeln, einen Berg hinauf, von grellen Reklamelichtern und trüben Seitengassenlaternen erleuchtet, während oben am Gipfel sich der violette Lichtschimmer des nächtlichen Großstadthimmels sammelt. Das ist ebenso minutiös wie stimmungsecht ausgeführt, aber es hat natürlich nicht wahre Größe. Die Arbeiter, die in den Gassen des Modells die Lichter regulieren, stehen, wenn sie sich aufrichten, plötzlich riesig wie Gulliver über der Liliputstadt da. Es musste also ein allmählicher Übergang zum Vordergrund geschaffen werden, wo die lebensgroßen Schauspieler agieren, Klöpfer, Frau Nissen usw. Das Modell endigt an einem Flusstal. Die Kailaternen spiegeln sich in dem Wasser, auf dem beleuchtete Dampferchen fahren. Links seitlich führt in schneller Vergrößerung der Stahlbogen eines Brückenstegs ganz nach vorn, und der von Bogenlampen erleuchtete Brückenaufgang, die dem Zuschauer nächstliegende Kaimauer mit Ruhebänken, Rasenparketts und Gartenanlagen hat bereits wahre Größe. All das ist durch Effektbeleuchtung und in Zusammenklang mit der Bewegungs- und Kleiderlinie der Darsteller zu einem künstlerisch ganz freien und doch lebenswahren Stadtbild voll symbolischer Stimmung zusammengeschlossen.
Technisch ebenso interessant ist der plastische Bau der „Straße“, nach der der Film den Namen führt. Sie ist auf dem E.F.A.-Gelände in Steglitz errichtet, 75 Meter lang. Dem Beschauer im Film soll sie natürlich den Eindruck eines sehr viel längeren Straßenzuges geben. Sie beginnt vorn mit einem Wolkenkratzer von 26 Meter Höhe (mit erleuchtetem Café, Ball-Lokal usw.) und schrumpft dann in Höhe und Breite bis zu ganz kleinen plastischen Hausmodellen, durch diese Größenunterschiede die perspektivische Illusion beträchtlicher Distanzen erzeugend. Die mathematisch sehr genau berechnete Technik ist wieder ein ganz neuer Schritt des deutschen Stilfilms, und auch dies wird sicher nicht verfehlen, die Aufmerksamkeit der Welt zu erregen.
Der Beitrag erschien ohne Autorenangabe
In BZ am Mittag, 15. Juli 1923. Beilage Film-BZ