Wenn man vor genau zehn Jahren das E.F.A-Atelier am Zoo betrat und sich durch die Dekorationen des Freigeländes, die für Ernst Lubitschs Flamme (1922) aufgebaut worden waren, in die Riesenhalle gedrängt hatte, konnte es geschehen, das Georg Jacobys Stimme mit Hilfe des Megaphons den in alle Winkel dringenden Ruf ausstieß: „Die Hofdamen, bitte!!“ Und dann erhoben sich von allen Sitzgelegenheiten in Empirekostümen steckende Mädchen, die

Die technischen Mitarbeiter von Napoleons kleiner Bruder im E.F.A.-Atelier.
2. Reihe von unten, Mitte: Architekt Martin Jacoby-Boy, links neben ihm Regisseur Georg Jacoby, rechts neben ihm Kameramann Karl Schneider.
gehorsam in die Mitte der Dekoration traten. Georg Jacoby verfilmte damals das Leben Jérômes, dessen netter Titel „Napoleons kleiner Bruder“ späterhin gegen die farblose Bezeichnung „So sind die Männer“ ausgetauscht wurde. Jérôme wurde von Harry Liedtke gespielt, Alice Hechy, die damals auf der Höhe ihres Ruhmes stand, war seine Partnerin. Diese Tatsache würde nicht ausreichen, sich des Filmes zu erinnern, wenn nicht die Sache mit den Hofdamen gewesen wäre. Diese Hofdamen wurden von Lia Eibenschütz angeführt, die an der Spitze erscheinen musste und die streng auf die zeremonielle Ausführung des Hofknickses zu achten hatte. Jacoby stellte seine Hofdamen so auf, dass sie in gutem Bildwinkel zur Kamera standen. „Können wir, Schneider?“ sagte er dann. Schneider war ein amerikanischer Kameramann, der von der Paramount, der Geldgeberin der E.F.A., nach Berlin geschickt worden war, weil man in New York der Meinung war, besser photographieren zu können als irgendwer. Schneider war denn auch in der Regel mit der Aufstellung der Schauspieler nicht zufrieden. Er postierte sie anders zu den Lampen als der Regisseur, ließ die „Spots“ (kleine tragbare Scheinwerfer der Beleuchterbrücke) ihr Licht nur über die Köpfe der Hauptfiguren streuen und verhielt sich gegen die Hofdamen sehr kritisch. Namentlich gegen die zweite, gleich hinter Lia Eibenschütz stehende Hofdame, eine blutjunge Reinhardtschülerin, hatte er allerlei einzuwenden. „Schon wieder dieses Fräulein Dietrich!“ hörte man Schneider seufzen. „O bitte, mein Fräulein, noch ein wenig mehr seitwärts, noch etwas, noch ein ganz klein bisschen, sooo“ (Blick in die Kamera), „sooo . . . jetzt ist es richtig“. Die junge Reinhardtschülerin Dietrich, deren Vorname noch niemand behielt, war dann im Bilde von Lia Eibenschütz gedeckt. Man sah die Andeutung eines Kleides, ein Stück einer Frisur, aber sie selbst war auf dem Bilde nur zu ahnen, im Falle es einen Zuschauer gereizt hätte, die Hofdamen Revue passieren zu lassen. Die Dietrich, von der man vor zehn Jahren im E.F.A.-Atelier nur auf besonderes Befragen hörte, dass sie Marlene hieß, war in dem Jérômefilm nur eine Figurantin, nicht mehr wie Fritzi Schadl, die später an der Nelson-Kleinkunstbühne als Tanzsoubrette glänzte, oder Hilde Maroff, die bald darauf größere Rollen bekam. Jeder sagte der Fritzi Schadl und Hilde Maroff eine schnelle Karriere voraus — an Marlene Dietrich glaubte niemand.
Bei Lubitsch hatte ihre Filmkarriere begonnen. Durch den Steglitzer Wüstensand war sie als „Chorführerin“ an der Spitze einer Komparsenherde gezogen, denn Lubitsch besetzte die vordere Reihe seiner Statisterie stets mit Schauspielern und zog aus alter Anhänglichkeit an Reinhardt die kleinen Darsteller seiner Bühnen und die Eleven von Reinhardts Theaterschule heran. Beim Weib des Pharao (1921) war für eine Theaterschülerin keine Karriere zu machen; sie verschwand in der Menge. Während Harry Liedtke als König Jérôme seine tollen Streiche verübte, wurde auf Marlene Dietrich der Hilfsregisseur von Joe May aufmerksam, der ruhige und besonnene Rudolf Sieber, der das nervöse Temperament Joe Mays am besten zu behandeln verstand. Eines Tages hieß es, daß sich die beiden verlobt hätten. Man zuckte die Achseln – das interessierte keinen Menschen. Etwas später erhielt Marlene Dietrich ihre erste richtige Rolle, eine Partie mit Großaufnahme in der Tragödie der Liebe (1922/23). Sie spielte die Alive, die Freundin des Staatsanwalts, die zur Schwurgerichtsverhandlung keine Karte mehr erhält, plötzlich doch im Saal erscheint und aus einem Monokel auf den Richtertisch blinzelt. Es war Marlenes erste Großaufnahme – keine zweite hat ihr so viel Freude bereitet.
In: Filmwelt, 10. September 1932