Ein wundervoller Abend. Noch strahlt der Himmel in tiefem Blau, im Abglanz der Herrlichkeit, mit der ihn noch vor einer Weile die Sonne überflutet hat. Vor seinen Bauten auf dem Ufa-Filmgelände in Neubabelsberg steht F. W. Murnau, der Regisseur des neuen Union-Ufa-Films Der letzte Mann und schaut gen Himmel. Will denn das gar nicht dunkel werden? Inzwischen wird es in Neubabelsberg lebendig. Die Komparserie trifft ein, zieht sich um, schminkt sich an und erscheint mit dem üblichen Gelärme und Getue auf dem Kampfplatz. Die Hilfsregisseure sausen hin und her: Photographen und Architekten geben den Bühnenarbeitern die letzten Anweisungen.

Aufbau der Modellautos; an den Häusern links und rechts werden die Miniatur-Fußgänger angebracht.
Foto: Cinematheque Francaise
Jetzt kommt die ideale Komparserie. Hunderte von Menschen, Männlein und Weiblein. Die geduldigsten der Welt. Mit denen man stundenlang proben kann, ohne dass sie müde werden oder gar murren. Leute, die für ihre ausdauernden Dienste noch nicht einmal bezahlt bekommen. Einige von ihnen haben es gut. Die sitzen in der Hotelhalle in Clubsesseln oder im Auto; sie brauchen doch wenigstens nicht auf der Straße im Regen herumzulaufen. Über die meisten aber rauscht er dahin, der gewaltige Sprühregen, erzeugt von der tüchtigen Betriebsfeuerwehr der Ufa. Etwas steif sind sie ja, jene Geduldskomparsen. Aber was tut’s? Sie halten sich ja weit vom Schuss. Sitzen in den Ecken oder huschen in den Tiefen der Straßen vor den Schaufenstern auf und ab. Ich habe zwei davon engagiert. Für meinen Sohn Filius. Zwei schöne. Ein Männchen und ein Weibchen nebst dazu gehörigem Auto und Clubsessel. Die ganze Bescherung habe ich unterm Arm nach Hause getragen. Gewicht etwa 4 Pfund. Auto und Clubsessel sind Liliput-Modelle. Männlein und Weiblein sind aus Sperrholz geschnitten. Ebenfalls Liliput.
Der Aufbau des Hotels und der Straße mit seiner perspektivischen Wirkung machte die Benutzung von Modell-Autos und –Menschen neben wirklichen Autos und Menschen notwendig.
Inmitten des Neubabelsberger Geländes steht ein mächtiger, moderner Bau. Das Hotel, vor dem Emil Jannings als greiser Hotelportier in goldstrotzender Uniform seinen Dienst versieht. Ein richtiggehendes Hotel mit Drehtür, Bureau, Schlüsselbrett, Postschaltern usw. Vor einigen Wochen sah ich das Interieur in den Ufa-Ateliers zu Tempelhof. In vielfacher Vergrößerung und umgekehrter Perspektive. In Banelsberg ist es kleiner und verjüngt sich im Hintergrund in solchem Maßstabe, dass vor dem Fahrstuhl bereits ein zwei Fuß hohes Modell steht, während vor der Drehtür wirkliche Menschen auf und ab laufen.
Gegenüber vom Hotel die moderne Verkehrsstraße mit einem ausgerechneten Wolkenkratzer. Sogar einem sehr gut ausgerechneten. Steht man vor der Tür des Hotels, so hat man einen fabelhaften Anblick. Tief, tief zieht sich die Straße hin, verliert sich ins Unendliche. Der Wolkenkratzer reckt sich trutzig gen Himmel. In endloser Länge. Aus den vielen Fenstern strahlt das Licht. Autos mit grellen Scheinwerfern huschen hin und her. Alles dies von den Architekten Herlth und Röhrig auf perspektivische Wirkung gebaut. Die Straßenkulisse ist an der Front 8 Meter hoch und verjüngt sich nach hinten auf 4 Meter. Der Wolkenkratzer, dessen normale Höhe 120 Meter betragen würde, misst knapp 12 Meter. Also so ziemlich das Verhältnis 1:10, welches überhaupt bei dieser Dekoration durchgeführt erscheint. Bei Bauten, bei Autos, bei Menschen.
Endlich ist es dunkel geworden. Die Lichtwagen rattern und knattern. Die Scheinwerfer sprühen ihr blau-weißes Licht auf den Asphalt der Straße. Die Feuerwehr steht mit neuen, selbst erdachten und ausgeführten Regenspritzen auf hohen Leitern. Murnau und sein Operateur Freund stehen unter einem Regendach. Vor dem Hotel Emil Jannings in Uniform und flatterndem Regenmantel. Im Gespräch mit dem als Gast erschienenen deutschen Schwergewichtsmeister Samson-Körner. Die Komparserie ist verteilt und hat ihre Gruppenführer. Achtung, Aufnahme! Los!
Ein ungeheures Gewoge. Autobusse, geliehen von der Aboag [Allgemeine Berliner Omnibus AG] und auffrisiert in Babelsberg fahren vorbei. Autos über Autos rollen heran. Große 60pferdige Wagen vorn auf der Straßenfront. Dann kleinere, dann Kleinautos, dann die Attrappen. Vor dem Hotel flutet die Menschenmenge auf und ab. Im Hintergrunde ziehen Bühnenarbeiter die hölzerne Komparserie an Strippen über die Szene.
Über das Ganze ergießt sich ein wahrer Wolkenbruch. Es gießt mit „Mollen“. Da bleibt kein Faden am Anzug, am Kleid trocken. Was helfen da Regenschirme! Derartig gründlich lässt es die Betriebsfeuerwehr regnen, dass das Wasser vom Asphalt wieder in die Höhe springt und spritzt. Die armen Dämchen in Seidenstrümpfchen und dünnen Toiletten können einem Leid tun. Sie nehmen im Laufen ein Sitzbad. Rosig ist die Stimmung unter der Komparserie nicht gerade. Man kann’s verstehen bei dem Hundewetter.
Eine Weile sieht Murnau das Gewoge mit prüfendem Blick an. Jetzt ein Zeichen und Jannings tritt in Funktion. Mit einem mächtigen Regendach bewaffnet schreitet er majestätisch durch den sprühenden Regen auf ein eben vorgefahrenes Auto zu. Öffnet den Schlag und geleitet die Aussteigenden über den Bürgersteig ins Hotel hinein. Dann kommt er zurück, um einen Koffer vom Dach des Autos zu holen. Schon hat er ihn in Händen. Ein Schrei, der alte Mann sackt in sich zusammen. Zu schwer war die Last. Man trägt ihn vom Platze. Die Tragödie dieses König Lear, dieses Königs der Hintertreppenatmosphäre hat begonnen. Eine ungeheuer wirksame Szene, diese Hotelszene. Man hat in letzter Zeit im Film viele Straßen gesehen. Gute und weniger gute. Die Straße in dem Film Der letzte Mann wird zweifelsohne alles bisher Gesehene übertreffen und zwar wegen ihres unerhört kühnen perspektivischen Aufbaus, wegen der bewunderungswürdigen Ausleuchtung und des vorbildlichen Tempos und des wogenden Lebens, das an dem regenumspülten Hotel vorbeibrandet. Nicht nur in darstellerischer, sondern auch in technischer Hinsicht wird Der letzte Mann das letzte Wort sprechen.
Ohne Autor.
In Film-Kurier, 13. September 1924