Als vor einigen Jahren Das Cabinet des Dr. Caligari auf dem Markt erschien, wurde es vielen Fachleuten schwindelig. Das Filmarchitektonische war in seiner Auffassung so unerhört neu, dass es der couragiertesten Fabrikanten bedurfte, um sich überhaupt damit vor das Publikum zu wagen. Der Erfolg war dann über Erwarten so groß, dass er unter den Regisseuren eine Art Psychose erregte.
Alle Linien ins Kubistische verzerrt, schiefe Stühle, schräg in die Luft hinein rotierende Karussells, — und ein lebendiger Jahrmarkt mit allem Gewimmel, zusammengesetzt aus Lumpen und Lappen, ein paar Fähnchen und ein paar Drehscheiben. — Wo sollte das Hinaus? War das der neue Weg? Die Filmarchitektur der Zukunft?
Viele Regisseure, zumal Regisseure in Gänsefüßchen, wurden nervös. Um nicht passé zu erscheinen, flochten sie rasch ihren Alltagsszenarien, ihren Bauten naturalistischen Stils plötzlich einige „expressionistische“ Szenerien ein, — wahllos, ohne zu bedenken, dass ein Film, wenn er Anspruch auf Qualität macht, nur einmalig einen, und zwar seinen Stil haben, und dass man in einem Film nicht zwei oder drei Stile durcheinander werfen kann.
So entstand die Caligari-Psychose, die aber glücklicherweise schnell überwunden wurde. Die Caligari-Architektur hatte nur einmalige Geltung. Die Nachahmungen wirkten lächerlich. Wie hat sich nun inzwischen die Filmarchitektur entwickelt? Der Laie, der sich nicht laufend auf dem Filmgelände aufhält, hat davon keinen rechten Begriff. Er wird wahrscheinlich herausfühlen, dass seit Caligari in der Architektur manches anders geworden ist. Die Ansprüche des Publikums an die Stimmung und den Stil der Bauten sind mit der Qualität des Films gestiegen. Aber es wird Bilder „sehr stimmungsvoll“ finden, „sehr malerisch“, ohne an das „wie?“ herankommen zu können.
Vieles hat sich seither von Grund auf verändert. Schon rein handwerklich genommen. Auch früher erstanden riesenhafte Filmbauten. Man denke an Lubitschs Weib des Pharao (1921), an das Indische Grabmal (1921; R: Joe May). Sie verschlangen ungeheure Mangen Material. Und diese Bauten mit ihrem nur für die eine Szenerie geschnittenen Hölzern ließ man dann gegebenenfalls Monate und Jahre stehen, bis sie verwitterten, zumal wenn auf dem betreffenden Gelände nicht sofort neue Bauten errichtet wurden, zu denen man Reste der alten hätte verwenden können.
Auf Aufnahmegeländen von der Größe des Ufa-Geländes in Neu-Babelsberg, wo meist vier und fünf Filme gleichzeitig in Arbeit sind, kann das Holz rationeller verwendet werden. Hier stehen große Bauten nie lange. Die große Freilichtbühne, in der die imponierende Urwaldszene zu den Nibelungen stand, ist z.B. (es handelt sich um hochaufsteigende Felsberge) aus dem Holz der Carmen (1918; R: Ernst Lubitsch), der Dubarry (1919; R: Ernst Lubitsch) und des Steinernen Reiters (1921/22; R: Fritz Wendhausen) gebaut. Und heute sind die Urwaldbäume der Nibelungen weggeschafft und ein Zille-artiges Hinterhausmilieu, kolossale kahle Mietskasernenfassaden sind dort gewachsen, für den Film Der letzte Mann, den der Regisseur F.W. Murnau mit Emil Jannings in der Hauptrolle dreht. Für diesen Film hat man erstmalig eine ganz neue Bauweise angewendet. Man verwendet einzelne Balkenstücke, die nach Bedarf in größerer oder geringerer Anzahl ineinander verschraubt werden können. Und die Wände sind Normalplanen, draht- und lattenüberzogene, mit Gips beworfenene Rahmen, die aufeinandergesetzt und dann nach dem jeweiligen Bedarf verputzt werden. Dadurch ist äußerste Materialersparung und äußerste Zeitersparnis in die Filmfabrikation eingezogen. Balken und Planen können schnell abgebaut und immer wieder verwendet werden. Die Arbeiten gehen unverhältnismäßig rasch vonstatten. Es handelt sich hier um ein regelrechtes Baukastensystem.
Aber das ist das rein handwerlich Neue in der Filmarchitektur. Die künstlerischen Probleme sind viel differenzierter.
Kommen Laien in die moderne Filmstadt und sehen z.B. die imponierend von Herlth und Röhrig errichtete große Burgruine mit dem 30 Meter hohen Turm in Babelsberg (Zur Chronik von Grieshuus) und nicht weit von ihr eine wetterzerfressene große Heidekirche zu dem gleichen Film, so sind sie entzückt über die Echtheit, die malerischen Qualitäten der Bauten. Aber der zweite Ausruf des Staunens ist: „Ja — warum bauen Sie so gewaltige Ruinen hierher? Gibt es denn in Deutschland nicht Hunderte von alten Burgen, die man hätte verwenden können?“
Die Antwort ist die: „So — finden Sie keine Burg und keine Heidekirche.“ Hier ist zunächst alles Typische auf einen Fleck gebracht, wie man es nie zusammenfinden, und zwar jedes auf den Fleck, wo man es braucht. Und dann ist die Burg so gebaut, wie es das Auge des Apparates braucht, die Linse. Es sind Bauten, wie es sie in Wirklichkeit nicht gibt. Errichtet nach den Gesetzen der Sehwinkel der Linse, aufsteigend, absteigend, übersichtlicher, mit besseren Perspektiven.
Den besten Begriff von der Filmbauweise erhält man an einem Beispiel: der „Filmtreppe“. Englische, selbst amerikanische Baumeister kennen sie vielleicht gar nicht. In Deutschland kennt sie jeder Filmarchitekt. Anderswo baut man die Treppen, wie sie überall sind, gerade und gangbar. Bei uns: schräg nach vorn geneigt, so dass die Stufenfläche vom Apparat erfasst wird. Der Burghof, so groß er ist, steigt schräg hoch, bietet Übersicht, Fläche, die die Linse erfassen kann.
Für Murnaus bereits oben erwähnten Film Der letzte Mann haben die Architekten Herlth und Röhrig jetzt besonders „freche“ Innenbauten geschaffen. Es handelt sich um eine ärmliche Kleinbürgerwohnung, in der eine groteske Hochzeitsgesellschaft gefeiert wird. Um das gedrückte der engen Wohnung zu typisieren, sind die Wände der Stuben, Kammern, Flure übermäßig zusammengerückt. Einen so engen Flur gibt es in Wirklichkeit nicht. Um aber den Raum trotzdem der Linse fasslich zu machen, steigen die Fußböden in schrägem Winkel hoch, und so steht Tischen und Stuhl schräg, und die Betten stehen schräg. Das Prinzip der „Filmtreppe“ hat sich — und das ist erstmalig und ganz neu — nun auch auf das Parkett übertragen. Darauf zu gehen, ist für die Schauspieler natürlich vorderhand unbequem, aber sie werden sich, wie die Matrosen ans schwanke[nde] Deck, schon daran gewöhnen.
Immer sensibler fühlt sich der Regisseur in den Stil seines Filmes ein, immer anspruchsvoller wird er. A.v. Gerlach hat für seinen Film Zur Chronik von Grieshuus neben den großen Burgbauten auch reine Landschaftsszenerien: Heide, Hügel, Bäume, nichts weiter, erstehen lassen. Er war wochenlang in der Lüneburger Heide. Fand aber nicht immer, war er wollte. Hier gilt es z.B., einen Weg durch Heide über einen Hügel aufzunehmen. Eine Gestalt steht erst direkt vor dem Apparat, der in die Erde eingebaut und schräg nach oben gerichtet ist. Die Gestalt füllt anfangs das ganze Filmbild aus, dann entfernt sie sich auf dem Weg, wird, der verkürzenden Perspektive der Linse entsprechend, rasch kleiner und wirkt droben auf dem Hügel, wenn er in den Wolkenhimmel ragt, wie ein Punkt …. Die Unendlichkeit der Heideneinöde … Diese Szenerie besteht aus einem Weg, der über etwelche auf Holzreitern hinlaufende Bretter von kaum Tischbreite hinläuft. Ist mit winzigsten Mitteln hingestellt, wirkt aber wie unendliche Meilen Heide, wie Unendlichkeit selber. Ein bisschen provisorisch hingestellte Bretter — als Piedestal paar Latten plus ein echtes Gewittergewölk, zum Wolkenhimmel, der sich dahinwälzt. Ein wie die Natur es spendiert, und die beste Lüneburger Heide ist blamiert!
Besonders interessant sind die „perspektivischen Szenerien“, die immer mehr verwendet werden, besonders wenn es sich um weite Ausblicke handelt. Man erinnert sich vielleicht an die Szenerie des Hunnendorfes Otto Huntes in den Nibelungen. Sie täuscht Meilen und Meilen im Gebirgsland vor: alles bedeckt mit Hunnenstrohhütten. Die vorderen Hütten waren von natürlicher Größe, hier tummelten sich halbnackte Menschen. Hunde wühlten im Morast, Knochen, Gedärm. Hinter dem Vordergrund verjüngten sich die Hütten, erst plastisch kleiner und kleiner werdend, bis sie in gemalte Bergkulissenhintergründe übergingen, zu denen wieder natürlicher Himmel verwendet wurde — nur, dass man da hinten ständig jemand stehen haben musste, der Spatzen scheuchte, wenn sie es sich einfallen ließen, auf dem Kulissenhintergrund Platz nehmen, auf dem „Rand“ des Berges — wo sie den Eindruck von Ungeheuern gemacht hätten. Noch kecker war das Zeltlager König Etzels. Hier auf einem Hügel einige große Fell-Zelte in Naturgröße. Unmittelbar dahinter große Reihen winzigster Zeltchen, nicht größer als Käseglocken, auf einem vierbeinigen Gestell. Sie erweckten den Eindruck, als stehe ein gewaltiges Zeltlager hinter Etzels Feldherrenzelt auf schroffen Berghöhen.
Und ähnlich steht jetzt ein „Meeresstrand“ mit vielen Kilometern Meer, mit Waldhügeln, Schloss, Kirche im Wald, mit Landungssteg, Fischernetzen auf dem Decla-Gelände. Eine Szenerie von Meilen in die Tiefe und nach den Seiten — sie ist aber nur einige Quadratmeter groß, in Miniatur nachgebildet, mit einem Wasserbassin von wenigen Metern. Das Wasserbassin entlang wird ein Feldwagen auf Schienen gestoßen. Darauf steht ein Matrose (der Schauspieler, wie er gewachsen ist) am Steuerrad, mit einem Rudiment Takelage und Bordwand. Warum aber das Modell? — das Schloss, um das es sich hier handelt, drehte der Regisseur in der Umgebung von Dresden. Das Meer auf der Nordsee. Da er aber beides brauchte, Schloss und Meer, auf einem Bild, vereinigte er die 300 Kilometer auseinanderliegende Natur durch das Modell, verpflanzte in der Miniaturattrappe Dresden an die See. Die Szenerie gilt dem Lustspiel Komödie des Herzens (1924) von Rochus Gliese, der ja unter die Regisseure gegangen ist.
Welche Linsen-Gestze mögen solchen Konstruktionen zugrunde liegen? Wie mögen sie sich mathematisch ausdrücken lassen? Einstweilen hat es jeder Architekt „im Gefühl“. Er berechnet nicht logisch. Diesen Gesetzen nachzuspüren ist aber Sache des Theoretikers, nicht des praktischen Baukünstlers.
Der Beitrag erschien ohne Autorenangabe
In: BZ am Mittag, 17. August 1924 (Beilage Film-BZ)