Wolfgang Liebeneiner: Locarno, Goebbels und die Wellensittiche (1949)

Wolfgang Liebeneiner, Karl John und Hilde Krahl stellten 1949 bei den Filmfestspielen in Locarno ihren Film „Liebe 47“ vor. Hilde Krahl erhielt den Preis des Festivals für die beste schauspielerische Leistung.

Kleiner Bericht von einer Reise nach Filmeuropa.
Man soll ruhig zu den Dingen ein paar Wochen Abstand gewinnen, ehe man darüber schreibt. Es waren herrliche Tage in Locarno, beglückend, erregend, voll interessanter Begegnungen und Debatten.
Aber wir fuhren ja nicht hin, um uns bestätigen zu lassen, sondern um uns einer Kritik auszusetzen, die andere Maße kennt als die gewohnten heimatlichen Gesichtspunkte. Das Festival ist mit der ganzen Kunst schweizer Gastlichkeit organisiert, zwar sind jeden Tag drei Filme zu sehen, aber zwischendurch gibt es auch Motorbootfahrten, Bade-Partien, Café-Plaudereien und Apéritiv-Parties, so dass man nach und nach jeden Gast zwanglos kennenlernen kann. Bei allen Gegensätzen in den künstlerischen und natürlich auch politischen Auffassungen herrschte in jedem Augenblick eine natürliche Höflichkeit, Achtung und Diskussionsbereitschaft und Freude am Spaß. In keinem Augenblick haben wir bei noch so heftigen Auseinandersetzungen auch nur die geringste persönliche Feindschaft zu spüren bekommen. Das war wohl das Beglückendste trotz dieses Durcheinanders von drei Sprachen.

Ich fürchte übrigens, dass ich in Frankreich nur noch als Komiker angesehen werde, seit ich mich verleiten ließ, dem französischen Rundfunk ein Interview in französischer Sprache zu geben. Denn seit ich in der Schule darin eine vier hatte, habe ich wenig hinnzugelernt. Auch sonst war die Bereitschaft zu befreiendem Gelächter allgegenwärtig. Zum Glück übrigens, denn bei der ersten Begegnung mit den Zielen und Auffassungen unserer ausländischen Kollegen gab es öfter Schrecksekunden. Unser Film erregte, ähnlich wie in Deutschland, auch in Locarno heftige und bis zum Schluß anhaltende Kontroversen. Der begeisterten Zustimmung der italienischen, französischen und belgischen Journalisten stand die schroffe Ablehnung der meisten schweizer Journalisten gegenüber. Die Zeitung „Die Tat“ hatte wohl recht, wenn sie am Schluss ihrer positiven Beurteilung schrieb: „Die Kluft ist zu tief. Der Film selbst spricht es aus, wenn er sagt: Wer es nicht erlebt hat, glaubt es nicht.“ Die Franzosen und Belgier hatten es eben selbst erlebt und die Schweizer nicht; so wurde ihnen der Film zur Groteske des Maßlosen, weil ihnen seine Voraussetzungen maßlos erschienen.
Ein Kritiker glaubte, Borchert gegen mich verteidigen zu müssen, indem er ausgerechnet die Traumszene angriff. Ich erwiderte, dass gerade diese Traumszenen von Borchert stammten, und dass das Bild eines Deutschen unvollkommen sei, wenn man nicht auch die unterbewusste Sphäre einbezöge. Er entgegnete, dass man dieses wohl auf dem Theater machen dürfe, aber nicht im Film. Und auf meine verwunderte Frage, warum dies nicht sein solle, kam die ungeheuerliche Antwort, dass die Kamera nur das festhalten könne, was wirklich der Realität entspricht, denn der Film sei der Technik verpflichtet, und die Technik allein sei wirklichkeitsverbunden.
Nachdem ich meinen Schrecken überwunden hatte, erzählte ich, dass mir im Jahre 1938 mit fast den gleichen Worten Goebbels begründet hatte, warum ich 800 m aus meinem Film „Du und Ich“ herausschneiden müsste, und warum jene Filmkunst, die ich damals und heute als die eigentlich deutsche ansah, „entartet“ sel. Die Journalisten hielten meine Äußerung vielleicht für eine Pointe, aber es ist die lautere Wahrheit; und ich gestehe, daß ich nur langsam über dieses Erlebnis in Locarno hinwegkam.
Die Schweizer anerkennen fast nur jene Filme, die der italienische „Neo-Realismus“ hervorgebracht hat, und beurteilen andere danach, wie weit sie diesen nahekommen. Von solchen Filmen lief einer der besten, „Die Fahrraddiebe“, in Locarno, ein Meisterwerk, unüberbietbare künstlerische und menschliche Erlebnisse vermittelt.
De Sica, der Regisseur, war anwesend und mit ihm die Hauptdarstellerin, eine Funkjournalistin aus Rom. Ihr männlicher Partner, ein Fabrikarbeiter, konnte nicht mitkommen, da er bereits in einem neuen Film beschäftigt war; diese „Laiendarsteller“ finden übrigens nur schwer in ihre privaten Berufe zurück, was in Italien bereits zu einem sozialen Problem geworden ist, denn nur in den glücklichsten Fällen stellt es sich heraus, dass sie keine Laiendarsteller sind, sondern unentdeckte Schauspieler, die nun zu ihrem wahren Beruf gefunden haben, Mancher Kritiker erhob die Forderung, im Film zwecks größerer Natürlichkeit ausschließlich mit Laien zu arbeiten; jeder Kellner ein echter Kellner, jeder Mörder ein echter Mörder! Aber auch diese Forderung ist bereits überholt, denn auf dem Film-Festival lief der amerikanische Film „Bill and Coo“, dessen Darsteller ausschließlich Wellensittiche waren, obgleich die Handlung eine völlig menschliche war, ein Miniaturzirkus mit Wellensittichen als Zuschauer, als Artisten eine Puppenstadt, bewohnt von Wellensittichen, ein Rabe als Erbfeind. Damit erzeugte der Regisseur Dean Riesner die genau gleichen Wirkungen wie in einem konventionellen, spannungsgeladenen Zirkus- und Kolportagefilm, indem er die herkömmlichen Mittel der Inszenierung, des Schnitts und der musikalischen Begleitung anwandte. Statt der Wellensittiche sprachen allerdings menschliche Stimmen. Doch es klappte vorzüglich, Man war gespannt, gerührt, erzürnt, begeistert. Der Regisseur spielte mit den Wellensittichen auf der Klaviatur unserer Kinoempfindungen. Wer das im Kino an sich sucht, kommt dabei voll auf seine Kosten und braucht sich hinterher nicht darüber zu ärgern, dass seine Tränen echt gewesen sind. Hätte ich in der Jury gesessen, dann hätte De Sicas Film ersten Preis und Riesner den Regiepreis bekommen.
Die Preise fielen übrigens ganz anders und völlig unerwartet. Da die Filme in Deutschland laufen werden, möchte ich der Kritik nicht vorgreifen, umso weniger, als ich ja selbst Partei bin. Da war ich mit dem Preis für die beste schauspielerische Leistung völlig einverstanden. Und als wir, sonnenverbrannt, für 14 Tage im Voraus satt gegessen, aber mit großem Schlafbedürfnis wieder nach Hause kamen, stellten wir die Plakette sehr stolz auf dem Schreibtisch auf in der Hoffnung, in kommenden Jahren noch einige weitere daneben stellen zu können. Durch solche Begegnungen wächst die europäische Filmfamilie zusammen; und vielleicht ist auch sie ein Vorläufer für die Völkerfamilie.
Zwei Tage, nachdem unser Film gezeigt worden war, suchte mich belgischer Journalist auf und sagte mir: „Ich mag die Deutschen nicht, sie haben mir und meiner Familie zu viel Leid zugefügt, und ich mag auch den deutschen Film nicht, aber Ihr Film war eines der größten Erlebnisse, die ich jemals im Kino hatte. Ich danke Ihnen.“ Ein schweizer Kaufmann sagte zu Karl John, er habe aus Hass gegen die Deutschen seit dem Ende des Krieges keinen Brief mehr nach Deutschland geschrieben und jede Verbindung dorthin abgebrochen, aber zwei Tage, nachdem er den Film „Liebe 47“ gesehen habe, hätte er zum ersten Mal wieder geschrieben.

In: FILMPRESS, Hamburg, 6. August 1949, Nr. 9