„Wenn man etwas erreichen will, dann hilft nur hämmernde Penetranz.“ Das, so Gero Gandert, sei das wichtigste, vielleicht sogar das einzige gewesen, was er von dem Publizistikprofessor Emil Dovifat gelernt habe. Dovifats Überzeugung hatte Gandert buchstäblich zum Motto seines Berufslebens gemacht. Sein Beruf, ja seine Berufung waren Film und Filmgeschichte.
Seit Anfang der 1950er-Jahre arbeitete Gandert als Filmjournalist. 1958 wurde er für seine Berichte über die Filme des Ostblocks denunziert und in der DDR zu Zuchthaus verurteilt. Der Fall machte Schlagzeilen; viele Kritikerkollegen setzten sich für ihn ein. Der Tag seiner Freilassung im Jahr 1961 war gleichzeitig der Eröffnungstag der „Berlinale“. Gandert lieh sich einen Frack und begrüßte einen Kollegen mit den Worten „Ich bin wieder da.“ Die Antwort war eine kalte, man kann auch sagen Kalte-Kriegs-Dusche: „Na, dann haben Sie wohl hoffentlich etwas gelernt.“
Ich denke, es war 1978, als ich Gero das erste Mal begegnete. Ulrich Kurowski war gerade in München Leiter der Bibliothek der Hochschule für Film und Fernsehen geworden und stürzte sich Halsüberkopf in die Arbeit. Es gab kein Wochenende mehr, es gab nur die Bibliothek und ihre Schätze, die entdeckt werden wollten. Da ich unter der Woche einen regulären achtstündigen Arbeitstag hatte, profitierte ich von Kurowskis Enthusiasmus und recherchierte in der Bibliothek für meine Eisenstein-Chronik. Zu uns gesellten sich für ein Wochenende Hervé Dumont und Gero Gandert. Beide waren wie ich Kurowski dankbar, dass er uns zu unkonventionellen Zeiten in die Bibliothek ließ. Andererseits war das aber doch auch eine Selbstverständlichkeit; wie sollten wir denn sonst unsere Recherchen machen, und ging es nicht Kurowski genauso? Im Nachhinein kommen mir diese Zugangszeiten wie ein großes Privileg vor, das man sich heute kaum noch vorstellen kann. Aber es gibt auch heute noch die Bibliothekare, die ihren Enthusiasmus mit dem der Besucher teilen und die Öffnungszeiten ihrer Bibliothek flexibel gestalten.
Hervé Dumont recherchierte zu Dieterle oder Siodmak, Gero für das „Handbuch des Films der Weimarer Republik“. Beim gemeinsamen Abendessen in einer Kneipe um die Ecke erklärte uns Gero in einem nicht enden wollenden Monolog die Idee des Handbuchs, was er schon alles gefunden habe, wie mühsam das alles sei und was er mit Fritz Lang erlebt habe, den er zum Protokoll von „M“ befragt hatte. Bis hinauf ins Dachgeschoss eines Münchner Mietshauses habe er sein schweres Grundig-Aufnahmegerät geschleppt und dann habe Lang ihm gesagt, er möchte doch lieber morgen kommen. Na sowas, ich staunte Bauklötze.
Einige Wochen darauf fuhr ich mit Kurowski nach Berlin. Als ich Gandert in der Kinemathek besuchte, war er mit dem Kopieren von Artikeln zu Emil Jannings beschäftigt. Er wollte eine Dissertation über Jannings schreiben; war da nicht vor kurzem noch die Rede von einem Handbuch gewesen? Ja, das macht er natürlich weiter, das ergänzt sich sogar. Kurowski hatte Peter Hagemann in seinem Büro besucht und raunte mir zu: „Da ist ein Doktorand, der hier nur den „Illustrierten Film-Kurier“ sortiert.“
Als im Hanser-Verlag die ersten Bände der Reihe Film „mit Unterstützung der Stiftung Deutsche Kinemathek“ erschienen, hatte ich den Lektor Michael Krüger gefragt, was man denn in einer Kinemathek überhaupt macht. „Die sitzen den ganzen Tag im Kino und sehen sich Filme an.“ Inzwischen wusste ich schon mehr. Es wurde dort auch geforscht, kopiert, sortiert, man sieht Filme und wird für das alles auch noch bezahlt. Das war ja ein Traumjob, das wollte ich auch machen.
Ich hatte das Privileg, seit den 1980er-Jahren mit Gero Gandert in der Deutschen Kinemathek in Berlin zusammen zu arbeiten. Schon vorher war ich Zeuge einer entscheidenden Weichenstellung in seinem Leben. Etwa 1979 fuhr Gandert auf meinen Hinweis hin nach Paris, um die kompletten Jahrgänge 1926-1932 der Tageszeitschrift „Film-Kurier“ zu kaufen. Aber die Anbieter wollten mit Deutschen keine Geschäfte machen. Sollte die Reise also umsonst gewesen sein? Das durfte nicht sein. Gandert wandte sich an Lotte Eisner und nahm mich mit. Die schon damals legendäre Kuratorin der Cinémathèque française erzählte ihm, wo das einzig erhaltene Drehbuch von Robert Wienes Das Cabinet des Dr. Caligari vermutlich zu finden sei. Gandert erwarb das Drehbuch nach zähen Verhandlungen für die Kinemathek. Den „Film_Kurier“ hat er später von einem anderen Anbieter nach Berlin geholt.
Es folgten eine Ausstellung und eine vom Goethe-Institut organisierte „Caligari-Tour“ durch die USA. Auf dieser Reise lernte Gandert zahlreiche deutsche Filmemigranten kennen, die er fortan im Sinne der „hämmernden Penetranz“ überzeugte, ihre Unterlagen an die Kinemathek nach Berlin zu geben. Ebenso überzeugte er die Leitung der Kinemathek, trotz geringer finanzieller Mittel immer wieder neue Reisen in die USA zu finanzieren.
Mit dem Archiv des Hollywood-Agenten Paul Kohner gelang Gandert 1989 schließlich sein größter Coup. Das bedeutete aber keinesfalls, dass er müde wurde. 1992 reisten Gandert und ich nach New York, um den Nachlass von Marlene Dietrich anzusehen. Am Abend waren wir mit Peter Riva, dem Enkel von Marlene Dietrich, zu einem Essen verabredet. Als Überraschungsgast erschien Maria Riva, die Tochter Marlenes. Während ich mit Peter Riva über den Nachlass sprach, redete Gandert unablässig auf Maria Riva ein. Unter anderem erzählte er ihr die Geschichte seiner Haft in der DDR. Maria Riva war zutiefst beeindruckt von dem „brave and honest man“.
Strukturiertes Arbeiten und Arbeitsorganisation waren Gandert fremd. Zu vieles musste dringlich und gleichzeitig erledigt werden, anderes blieb deshalb auf der Strecke. Dazu hätte beinahe auch das „Handbuch“ gehört, das sich nicht nur für ihn zu einem wahren Alptraum auswuchs. Gandert fand und erfand immer neue ungelöste Fragestellungen und Probleme, weshalb das „Handbuch“ noch nicht fertig war und „unmöglich“ erscheinen konnte. 1993 schließlich wurde der erste Band „1929“ publiziert; es blieb der einzige Band. Auf dem langen Weg dorthin hatte Gandert allerdings den Enthusiasmus aller Beteiligten restlos verbrannt.
In den 2000er Jahren sah man gelegentlich auf dem Flur jüngere Kollegen amüsiert den Kopf schütteln über Ganderts Ideen. Es stimmte ja – er hatte den Zeitpunkt verpasst, zu dem er seine Arbeit in der Kinemathek hätte beenden müssen. Merkte er das Kopfschütteln? Wenn ja, dann machte es ihm vielleicht doch nichts aus. Er hatte das früher schon erlebt, in den achtziger Jahren, als er sich mit eigenem Geld als erster einen Computer für seine Arbeit anschaffte, als er davon sprach, wie die Videotechnik den Film verändern würde. Da hatte wir alle den Kopf geschüttelt und uns amüsiert über ihn und seine Ideen – und uns dann nach und nach dem Fortschritt geöffnet.
So viele Geschichten gäbe es von Gero Gandert zu erzählen, diesem äußerlich unscheinbaren Mann, der für die Filmgeschichte brannte und dieses Feuer auch in anderen entzündete. Die schönste ist aber doch, dass er mit seiner Lebensleistung selbst ein Teil der Filmgeschichte geworden ist. Das soll ihm mal jemand nachmachen.
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