Friedrich Porges: Der Film im Film (1924)

Jede Erfindung hat ihre Geschichte. Von den ersten tastenden Versuchen bis zur Vollendung führt oft ein langer Weg, von Erkenntniszufällen vielleicht und bis zur praktischen Umsetzung einer Idee vergehen Jahre, Jahrzehnte. Vielfach ist der Erfahrungssatz längst gefunden, der den Unterbau der Erfindung bedeutet. Aber es bedarf der ausdauernden Arbeit noch vieler Gehirne, um die Theorie in die Praxis umzusetzen. Es ist im Grunde schwierig, das Alter einer Erfindung zu bestimmen, wenn man nicht von jenem Tag oder Jahr an rechnen will, in dem bereits die erfolgreiche Erprobung stattgefunden hat. Die Geschichte technischer Errungenschaften ist gewissermaßen Entwicklungsgeschichte. Und darum wäre es unrichtig, nur Daten des Effekts zu geben, ohne das Werden zu berücksichtigen.
Die Geschichte der Kinematographie ist noch ungeschrieben. Sie ist es vielleicht deshalb, weil man allzusehr an die Jugend dieser Erfindung glaubt, und weil selbst Leute, die sich seit jeher für sie interessierten, ihren Anbeginn frühestens in das letzte Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts gesetzt denken. Diese Meinung ist natürlich insofern richtig, als jene endgültige Form des „lebenden Bildes“, wie wir sie heute in unseren Kinotheatern sehen, bereits in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, wenn auch photographisch primitiv, auf Gips- oder Linnenwänden in Jahrmarktbuden , ja auch schon in kleinen „Biograph“-Theatern gezeigt wurde. Dieses „lebende Bild“ aber war bereits der Effekt theoretischer Erkenntnisse und praktischer Versuche, die weit über ein Jahrhundert zurückreichen, ja, deren „Ahnung“ sogar in den Zeiten des Ptolomäus schon vorhanden war. Man könnte also den Ursprung der Erfindung der Kinematographie eigentlich in das Altertum verlegen, wäre nicht nach jener ptolomäischen Periode, die das Prinzip der Verlebendigung durch Bewegung erkannte, eine jahrhundertelange Zeit eingetreten, in der man an eine Beschäftigung mit jener Theorie nicht im entferntesten dachte.
Der Geschichtsschreiber muss dort beginnen, von wo aus eine kontinuierliche geistige Verarbeitung der einmal gegebenen Idee verfolgt werden kann. Dieser Zeitpunkt liegt im ersten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts.
Sollte ich mich einmal entschließen, die Geschichte der Kinematographie zu schreiben, so werde ich sie freilich in zwei Abschnitte teilen müssen: in eine Geschichte der technischen Entwicklung der Kinematographie und in einen Überblick über die künstlerische Entwicklung des „Films“. (Wie überhaupt „Kinematographie“ als der technische Begriff und „Film“ – eine zwar fälschliche Bezeichnung, weil bloß das Rohmaterial so heißt – als der künstlerische Begriff empfunden wird.) Die technische Entwicklung – zweifellos die äußerlich schwierigere – hat viele Jahrzehnte lang gedauert. Die künstlerische Entwicklung hat weit eiligere Fortschritte gemacht. Dennoch wäre auch über den kurzen Zeitabschnitt des inhaltlichen Werdens des Films, über die Entwicklung der Kunst im Film, über die Vervollkommnung der Kunst des Filmdarstellers und dergleichen vieles, davon manches Grundlegende, an der Entwicklung gemessen, zu sagen.

Das technische Prinzip der Kinematographie ist die „optische Täuschung“. Das menschliche Auge behält jeden Lichteindruck eine Achtelsekunde lang in sich. Bilder, die dem Auge beweglich erscheinen, bestehen in Wirklichkeit aus einer Serie verschiedener bewegungsloser Bilder. In rascher Aufeinanderfolge gesehen, wirken die Phasen der Bewegung als einzige Bewegung. Bekannt – und ein allerster Versuch in dieser Richtung ist das Experiment d’Arcis, der ein Stück glühender Kohle, an einem Bindfaden befestigt, rotieren ließ. Das menschliche Auge sieht in diesem Falle einen ununterbrochenen glühenden Kreis, weil es eben die Lichteindrücke länger behält als die Kohle in einer Bewegungsphase verharrt.
Im Jahre 1825 hat der englische Astronom John Herschel eine zufällige Entdeckung gemacht, die zeitlich den Ausgangspunkt ernsterer Versuche darstellt. Er hat – ein von Kindern gern geübtes Spiel – ein Geldstück, indem er es mit den Fingern zum Rotieren brachte, auf dem Tisch „tanzen“ lassen. Und dabei bemerkt er, dass dem Auge beide Seiten des Geldstücks gleichzeitig sichtbar sind. Diese spielerische Entdeckung gab einem Freund Herschels Veranlassung, das sogenannte Wunderblatt, ein Kinderspielzeug, zu schaffen, das einmal sehr verbreitet war; ein runder Karton, auf dessen Vorderseite ein Vogel und auf dessen Rückseite ein Vogelbauer gezeichnet ist. An elastischen Schnüren zu rascher Umdrehung gebracht, zeigt das Wunderblatt den Vogel im Käfig sitzend.
Aus dem Spielzeug sollte sich nach und nach der kinematographische Apparat entwickeln. Im Jahr 1882 schufen bereits der Wiener Gelehrte Stampfer und der Genfer Plateau gleichzeitig Apparate mit rotierenden Bilderscheiben, die „Lebensräder“. In den darauffolgenden zwei

Phenakistoscope in Bewegung

Phenakistoscope von Eadward Muybridge

 

 

 

 

 

 

Jahrzehnten entstanden die verschiedenen„Wundertrommeln“ und das „Wunderbuch“, jene Aufeinanderfolge von Einzelbildern, die, rasch geblättert, Bewegungen vortäuschten. Die Erfindung Daguerres (1842) verdrängte das gezeichnete Bild. Der photographische Apparat wurde auch in den Dienst der Forschungen gestellt, die zur Vollendung der Kinematographie führen sollte. Uchatius, Muybridge,Anschütz, Marey, Lumière ist nur eine Auswahl von Namen Gelehrter, die sich von da ab eifrigst mit der theoretischen oder praktischen Auswirkung der bisherigen Erfahrungen beschäftigten. Man konstruierte Aufnahme- und Wiedergabeapparate, man schuf lichtempfindliche Platten und Papierfilmbänder. Und man gelangte (Edison und Messter) zu vervollkommneten Aufnahme- und Projektionsmaschinen, bei denen man schon das Zelluloidband verwendete.Ein interessantes Experiment, das zur genauen photographischen Darstellung der Bewegungsphasen lebender Menschen führte, hat unter anderen ähnlichen Versuchen der Amerikaner Muybridge im Jahre 1870 gemacht. Er ließ 24 photographische Apparate nebeneinander aufstellen, von deren Auslösern aus Fäden nach einer gegenüberliegenden Wand geführt waren. An den Apparaten vorbei ließ Muybridge nun ein Pferd galoppieren, das, indem es die Fäden berührte, beziehungsweise zerriss, die Apparate in Aufnahmefunktion brachte. Tatsächlich waren auf diese Weise alle Galopp-Phasen im Bilde festgehalten, ein Resultat, das auch die überraschende Erkenntnis zeitigte, dass ein Pferd während des Galopps in einem bestimmten Augenblick mit allen vieren über dem Erdboden schwebt.

Eadweard Muybridge.
Human and Animal Locomotion, Plate 626, photographs taken between 1878 and 1887.

Die Geschichte der Kinematographie habe ich vorläufig nicht geschrieben, aber ich habe sie verfilmt. Nachdem ich schon vor zwei Jahren (ich hielt damals einen Vortrag „Aus der Werkstatt des Films“ in der „Urania“) die Vorbereitungen getroffen und die Vorarbeiten begonnen hatte, vollendete ich in den jüngsten Monaten in Berlin ein sechsteiliges Filmwerk „Der Film im Film“, in dem ich der szenischen und demonstrativen Darstellung der Geschichte der Kinematographie einen großen Raum widmete. Das Deutsche Museum in München, das eine Kopie dieses Films seinen Sammlungen einverleibt hat, stellte mir alle historischen Apparate zur Verfügung. In seinen übrigen Teilen ist Der Film im Film der Arbeit am Film gewidmet. Er zeigt, wie ein Film entsteht. Die bedeutendsten Regisseure und Filmdarsteller sind bei ihrer Arbeit im Atelier und im Freien für diesen Film aufgenommen worden, der in seinem Schlussakt – aus der Schule geplaudert – auch noch die Art, wie Filmtricks gemacht werden, verrät.
Meines Wissens geschieht es zum ersten Mal, dass der Film sich selbst und seine Geschichte beschreibt, und vielleicht darf das Werk, das ich eben schuf und über das ich mir (als Journalist) selbst zu berichten gestattete, dereinst als „Quelle“ dienen, wenn die Forschung sich mit der Geschichte der Kinematographie befassen will, die zweifellos an Interessantem eine Menge zu bieten imstande ist.
In: BZ am Mittag, 6. April 1924 , Nr. 96