[Willy Haas: Was wird gearbeitet? – Ein Besuch im Ufa-Gelände Neubabelsberg]

Plakat Nr. 1 – Grösse VI (92 x 142 cm).
Entwurf: Thweo Meteijko

Vorbemerkung:
Der Beitrag von Willy Haas erschien ohne Autoren- und Titelangabe in der Publikation der Ufa „Der letzte Mann. Reklameratschläge für den Theaterbesitzer.“ Er ist der gekürzte Nachdruck eines Artikels von Willy Haas aus dem Film-Kurier vom 19. Juli 1924, Nr. 169. Gestrichen wurden die anschliessenden Absätze eines Gespräches mit Walter Röhrig und die Beobachtungen zu den Dreharbeiten von Zur Chronik von Grieshuus, Mein Leopold und Decameron Nights. Der ungekürzte Text von Haas ist abgedruckt in „Willy Haas: Der Kritiker als Mitproduzent. Texte zum Film 1920 – 1933.“ Herausgegeben von Wolfgang Jacobsen, Karl Prümm und Benno Wenz. Edition Hentrich, Berlin 1991.

Wenn man die Barriere des Babelsberger Ufa-Geländes überschritten hat – was übrigens gar kein so leichtes Kunststück ist, denn die Portiers im Pförtnergebäude sind von unnachsichtiger Strenge und schicken filmbegeisterte junge Damen und Herren ohne Rücksicht auf ,,Empfehlungen“ und ,,Engagementsversprechen” von seiten eines „Herrn Regisseurs” scharenweise weg, bevor sie das Paradies überhaupt betreten haben – wenn man aber schließlich doch drin ist – dann ist man allerdings, wenn man nur etwas Begeisterung für den Film übrig hat, in einem Paradies …
Hier wird gearbeitet – und wie!! Man atmet erleichtert auf. Flaute? Stagnation? Hier ist nichts davon zu merken. Man ist weit entfernt von der skeptischen Atmosphäre des „Filmviertels”. Hier ist nicht nur die Luft herrlich frisch, rein, klar, der Boden dampfend und funkelnd in hellem Grün der Wiesen, im samtigen Dunkelgrün der Nadelwälder – hier funkeln und dampfen auch die Menschen von Schaffenslust, von produktiver Lebensfreude. Hier wird gearbeitet!!

Rechterhand ragt die riesenhafte Hunnenhalle Fritz Langs – noch als halbe Ruine fast erschreckend in ihren Dimensionen, so hoch wie die höchsten Maschinenhallen der A. E. G., geschnitzt, bemalt, grell, barbarisch – noch heute, da uns der Anblick aus dem fertigen Filmbild vertraut ist, ein überwältigender Anblick. Unwillkürlich wendet sich der Schritt zuerst dahin.

Man umschreitet die gigantische Ruine – und bleibt plötzlich wie erstarrt stehen. Es bietet sich ein Schauspiel, wie dergleichen auch der älteste Filmhase noch nicht gesehen hat. Man muss überhaupt erst nach Luft schnappen, bevor man sich darüber orientiert, was hier eigentlich vorgeht …

Hinterhof im Bau

Da sieht man nämlich … vorerst nichts als eine kleine Gruppe von Menschen, die inmitten eines trostlosen, grauen, hohen, kahlen Proletarier-Hinterhofes, der an die Hunnenhalle angebaut ist, scheinbar planlos hin- und herrennen, sich um ihre Achse drehen, eine tiefe Verbeugung zur Erde, eine Rumpf-Rückwärtsbeugung zum Himmel machen, dann wieder ein paar Laufschritte nach vorn, wieder eine Pirouette. wieder eine Rumpfbeuge …
Also „total meschugge”!
Erst wenn man sich vom ersten Schreck erholt hat, erkennt man allmählich die Gestalten.

Karl Freund mit dem Stachow Filmer vor dem Bauch. Rechts neben ihm F. W. Murnau. Robert Baberske, 3. von links, prüft die Sonnenstrahlung mit entsprechenden Brillengläsern.

Da turnt vor allem Freund, Karl Freund, der wohlbeleibte Herr Freund, unser deutscher Meisteroperateur. Im Schweiße seines Angesichts. Denn nicht nur sein stattliches Embonpoint belastet ihn, sondern ein ganzes Riemen- und Schnallenwerk um seinen Körper, das ein Holzgestell festhält, und in dieses Holzgestell hineinmontiert – – der Aufnahmeapparat. Also ein rennender, schwebender, pirouettierender, sich verbeugender Apparat!
Wundervoll! Jetzt ist man gleich begeistert! Natürlich, der feste Apparat auf dem Stativ ist ja längst eine Unmöglichkeit. Die Amerikaner, scheint es, husten längst schon auf das Stativ. Bei uns hat Lupu Pick zum „Sylvester“ eine Art auf Schienen fahrbaren Stativwagen hergestellt – – dies hier ist aber doch wieder etwas völlig anderes, völlig Neues – etwas, was zwar Lupu Pick zum erstenmal versucht hat, was aber hier F. W. Murnau mit einer verblüffenden Radikalität in alle Konsequenzen durchgeführt hat: Der rennende, tanzende, pirouettierende, turnende Apparat dreht nämlich in seiner Bewegung. Das hat noch kein Amerikaner gewagt. Wie das Auge des Beschauers, der ja auch auf etwas Merkwürdiges „zugeht” – – nein, noch anders: wie das Auge eines schöpferischen Schriftstellers, in dem der Funke gezündet hat im Anblick irgendeiner kleinen, nichtigen Detailszene in einem Hinterhofe, und der nun nach der Gesamtheit des Bildes ringt, der zu dem großen Gesicht einer grinsenden alten Proletarierfrau auch die ganze trostlose Hoffront der Mietskaserne haben muss, alle vier Fronten des Hofes, auch noch den bleigrauen Großstadthimmel darüber, auch noch die Alkoven, auf der ein alter staubiger Teppich ausgeklopft wird, auch noch das holprige schmutzige, mit Abfall besäete Hofpflaster, der alles zusammenhaben muss – – aber doch wieder alles irgendwie bezogen auf dieses grinsende, zahnlose Hexengesicht, das ihm in diesem Augenblick alles beherrscht, alles bestimmt, alles versinnbildlicht. diese ganze Welt aus Trostlosigkeit, Staub und Bedrücktheit ….
Das hat man sehr schnell begriffen. Und mit einer Mischung aus Verwunderung und Begeisterung geht man daran, der Angelegenheit etwas detaillierter näherzutreten.

Karl Freund wird im Käfig hochgezogen.

Karl Freund sitzt im Käfig und filmt den Trompeter.

Die Gruppe, die mit dem bepackten Vorturner Karl Freund mitturnt, besteht aus F. W. Murnau, dem braven Assistenten Körner – jedem wohlbekannt, der in der Filmbranche zu tun hat, einer von denen, die jahraus, jahrein schwer und musterhaft arbeiten und niemals „genannt” werden, – schließlich noch aus zwei oder drei Hilfsoperateuren. – Es handelt sich also, wie jeder Eingeweihte längst erraten hat, um den neuen Murnaufilm der Ufa DER LETZTE MANN, die neue Filmdichtung Carl Mayers, mit Emil Jannings in der Hauptrolle.
Ich darf in dem Manuskript ein wenig blättern. Es ist noch ganz anders, viel radikaler, viel intuitivpräziser auf dem merkwürdigen dichterischen Weg Carl Mayers, als desselben Verfassers „Sylvester“ Dichtung, die bei Kiepenheuer in Buchform dem breiten Publikum zugänglich ist.
Es ist überhaupt fast nur noch wortgewordene Bildsymphonie. Dem Laienpublikum wird es nur noch schwer möglich sein, sich in diesem Dickicht von aneinandergereihten Substantiven, Interjektionen, auseinandergerissenen Satzpartikeln zu orientieren. Auch der Fachmann findet sich erst allmählich zurecht. Aber wenn er sich einmal zurechtgefunden hat, dann kann er nur noch – bewundern. Diese Konsequenz! Diese eiserne Präzision, die überhaupt nicht mehr in Worten denkt, die fast gewaltsam, mit jedem Substantiv, mit jedem Ausruf, die Intuition des schöpferischen Regisseurs zu einer ganz bestimmten Entfaltung zu zwingen sucht! Dieses vollständige Im-Auge-leben, ein ganzer Mensch, eine ganze Sprache, ein ganzes Denken in dieses Auge gedrängt, ganz hart Vision neben Vision, wie ein Quaderbau ohne jede Lücke!

Man sagt sich: wenn schon Kinematographie …. dann kann doch dieses, nur dieses der organische Weg in die Zukunft sein!
Oder ist man für den ersten Augenblick gar zu sehr mitgerissen?
Es wäre kein Wunder. Man könnte, hätte man Talent dazu, wirklich eingebildet werden. Es geschieht hier in der Tat fast alles, was man (d. h. der Schreiber dieser Zeilen) vor Jahr und Tag, durch theoretische Analyse, als den einzig möglichen, einzig organischen Weg des Filmes in die Zukunft aufgewiesen hat. Man erlaube diesen persönlichen Seitensprung pro Domo. Erschiene heute eine zweite Auflage des Buches „Der Film von morgen“, der gestern, nämlich vor anderthalb Jahren, im Verlage Kaemmerer, Berlin, erschienen ist – – der Verfasser dieses Artikels wüsste nichts Besseres zu tun, als auf die Tatsache dieses Filmes als schlagenden Beweis für seine dort ausgesprochenen Erkenntnisse hinzuweisen.
Der Film strebt tatsächlich dem reinen Monologismus und der ganz reinen Kontinuität zu – aber einer Kontinuität von viel radikalerer Art als jene, die man in Filmkreisen schon heute als Hauptbedingung des „guten Filmes” kennt und anerkennt. Nicht bloß der Kontinuität der Handlung – sondern der Kontinuität des lebenden, leidenden, fühlenden, sehenden Subjektes innerhalb des Filmes, des „Helden”, nein, des „Anti-Helden” (im heroischen Sinne des Bühnendramas). Ich schrieb einmal: Der beste Film wäre es, wenn man ein wahres, mimisches Filmgenie wie die Asta Nielsen einfach tagaus, tagein, von früh bis abends, mit dem Apparat verfolgte. Er wäre sogar der spannendste Film.
Nun, das war natürlich als Übertreibung, bloß exempli causa, gesagt. Aber etwas ganz Ähnliches geht hier vor sich. Es gibt in diesem Film nur eine einzige „Person“: Jannings, der Hotelportier. Um ihn herum gibt es keine Menschen – sondern nur Gesichter, lebende Masken, ein höhnisches Auflachen, Farbflecken, Meere von Farbflecken, Scharen von Hotelgästen, Silhouetten von dumpfen Proletariern – keine Menschen. Er allein lebt. Freut sich. Leidet. Wird vom Apparat verfolgt, in jeden Winkel der Hotelhalle und seines dumpfen Proletarierquartiers. Von morgens bis abends. Er kontinuiert; nein: er allein ist da.
Ungeheurer Mut eines Regisseurs, einer Produktionsfirma, diesen Weg mitzugehen! Unsere Segenswünsche begleiten sie …. der Segen jedes Guten, der aufrichtig innerlich mit der Filmkunst verknüpft ist!
Die „Farbflecken“ in der „Handlung“ sind natürlich auch sozusagen „Menschen“ und werden auch sozusagen von „Schauspielern“ gespielt. Aber man kennt sie nicht. Es sind meist völlig unbekannte Größen, manche vom Theater, viele überhaupt ganz neu, zusammengelesen von der Straße, aus Hotelhallen, aus einem Obdachlosenheim. Nur die Namen Vallentin und John kennen wir aus dem ganzen langen Personenverzeichnis, das dem Manuskript voransteht.
Murnaus Architekt, Röhrig, hat nebenbei noch einen zweiten großen Bau für denselben Film ausgeführt: Die Front eines Weltstadthotels von den Dimensionen des Berliner „Kaiserhofes“ oder des Wiener ,,Imperial” – ein richtiges Riesenhotel, mit angrenzender Großstadtstraße und perspektivischem Freilichtbau über eine amerikanische Stadt …. und sie alle arbeiten mit einer Begeisterung, mit einer Hingabe, wie ich es noch selten gesehen habe.
Diesem liebenswürdigen Künstler macht es ein Vergnügen, uns weiterzugeleiten durch das Gewirr der Filmbauten auf dem kolossalen Territorium.

© Filmarchiv Austria. Mit freundlicher Genehmigung