„Da sagten die Kinder, die Geschichte war fein; nun erzähl uns noch eine, Großmütterlein…“
(Refrain eines Otto Reutter-Chansons)
Eines Tages im Jahre 1933 übernahm Dr. W. Lohmeyer, dem ich für seine ersten Artikel im „Junggesellen“ die Kommas gepumpt hatte, die Chefredaktion des Berliner „Film-Kurier“ und ließ in Fortsetzungen den Roman „Nur nicht weich werden, Susanne“ des „Angriff“-Kritikers und bald „Reichsfilmdramaturgen“ Willi Krause erscheinen. Albert Schneider, der 1933 das „Film Journal“ verließ, schrieb in der „Lichtbildbühne“ unter der Überschrift „Kosmopolitisch ist nicht international“ einen Leitartikel gegen mich, den ich mir aufgehoben habe, weil unsereiner doch erst auf einen Hitler warten muss, um seinen Namen auf der ersten Seite einer Zeitung angegriffen zu finden. „Wer liest schon die B.Z. am Mittag?“ pflegten wir die Schauspieler immer zu trösten, wenn dieses Blatt ihnen eine schlechte Kritik geschrieben hatte; da ich aber zu dieser Zeit schon im Ausland war, konnte mich diese Attacke nur stolz machen.
Erinnerungen verschönen bekanntlich, und die Vergangenheit erscheint uns nur deswegen schöner, weil wir damals eben jünger waren. Das trifft nicht nur auf die alte, sagenumwobene Ufa zu, sondern auch auf die Fachpresse, die man vor 1933 las. Und wenn man eines Tages daran gehen wird, die wirkliche Geschichte des deutschen Films zu schreiben anstatt die jetzt üblichen „Gartenlauben“-Fassungen, wird man auch die vergilbten Jahrgänge des „Film-Kurier“, der „Lichtbildbühne“, des „Reichsfilmblatt“ und all der anderen Blätter durchsehen müssen, um zu sehen, wie sich die Bankrotte und Erfolge von Anno Dazumal wirklich abgespielt haben, und dabei feststellen können, dass manche Filmschaffende von einem Misserfolg den Rest ihrer Tage gut leben konnten.
Die „L.B.B.“, wie man Wolffsohns Tageszeitung kurz nannte, war wohl die erste, die sich der jungen Industrie widmete. Dr. Kurt Mühsam mit seinem schwarzen Spitzbart fungierte als Chef, bis Dr. Hans Wollenberg ihm folgte. Zu den Kritikern gehörten Rudolf Kurtz, Autor von „Expressionismus und Film“, und Heinrich Fraenkel. der kürzlich die beiden Bücher „Unsterblicher Film“ veröffentlichte. Zahm, konservativ und wohlinformiert wurde in ihr kommentiert; man braucht sich – mit Ausnahme der Ufa, die länger als ein Jahr alle Inserate sperrte – kaum über die „L.B.B.“ zu ärgern oder aufzuregen. Die zweite Tageszeitung, der „Film-Kurier“, war eine Nachkriegs-Gründung Alfred Weiners, der als Inseraten-Akquisiteur für Maximilian Hardens „Zukunft“ angefangen hatte. Dr. Frankfurter redigierte zuerst das Blatt, und Willy Haas und Bobby Lüthge schrieben dafür und fanden so ihre Liebe für das noch keineswegs salonfähige Massen-Unterhaltungsmittel. Viele gute Journalisten haben beim „Film-Kurier“ gelernt, wofür Hans Tasiemka noch heute ein lebender Beweis ist. Konsolidiert hat sich die Zeitung dann unter Ernst „Ejott“ Jäger, der vorher die „Reichsbanner-“ Bewegung propagiert hatte; unter seiner Leitung wurde Weiners Blatt dann eine Macht. Um die Inserenten nicht zu verscheuchen, brachte “Ejott“ seinen Lesern eine Geheimsprache bei, so dass sie selbst hinter sogenannten guten Kritiken die wahre Meinung erkennen konnten. Sein Stab bestand aus Dr. Hans Feld, der sich an der Oper austoben konnte, was er beim Film hinunterschlucken musste (er ist heute ein erfolgreicher Geschäftsmann in London); Lotte H. Eisner. die die Avantgarde in der Redaktion vertrat und heute als Miss Escoffier in Paris an der „Cinemathéque“ arbeitet; Georg Herzberg und zuletzt den jungen Urack, der von den Nazis aus Wien zurückgelockt wurde und umkam. Mächtigster Mann aber war hinter den Kulissen der Inseratenakquisiteur Franz Woelke. Rein äußerlich sich für die Belange der Industrie einsetzend, enthielt der „Film-Kurier“ mindestens einmal jede Woche eine Zeitbombe, die nur von den Eingeweihten erkannt wurde; das Blatt war das ewige ‚Enfant terrible’ der Film-Journaille.
Unter den Film-Wochenblättern stand das „Reichsfilmblatt“, Organ des Theaterbesitzerverbandes, an der Spitze. Es wurde von Felix Henseleit sachvorständig und vorsichtig redigiert und trat keinem auf die Zehen. Eine Kuriosität war der Atelier-Reporter Cappi, der im Neben- oder Hauptberuf Film-Statist war. Der Chef trug schon damals einen Regenschirm zum grauen, weichen Hut und sah genauso abgearbeitet und leidend aus wie heute; er wird uns voraussichtlich alle überleben. H.W. Betz machte „Der Film“, ein anderes Wochenblatt in der Ritterstrasse, und sein Hauptmitarbeiter war Fedor Kaul, der Expert-Skat-Sachverständige. Betz selbst half späterhin mit, ein böses, antisemitisches Buch über die Filmindustrie zu schreiben. Aros (A, Rosenthal) redigierte das tägliche „Film-Echo“, und Albert Schneider war Chef des „Film-Journal“, worüber ich mir alle Bemerkungen verkneifen möchte; mitgearbeitet habe ich wohl an all diesen Fachzeitungen das eine oder andere Mal. Außerdem gab es natürlich noch Publikums-Filmblätter, die kamen und gingen.
„Bühne und Film“ hieß eine, und die dauerhafteste war wohl Ickes „Filmwoche“, die Edith Hamann gut informiert als „Briefkasten-Tante“ hatte. Dazu Scherls Publikumblatt „Film-Welt“, das mit der Zeit die „Filmwoche“ von Ickes auflagemäßig übertraf und das von dem lustigen Schwaben Alwin Schetter unter der Oberleitung von Aros gemacht wurde. Ganz zu schweigen von Wolfgang Fischer, der damals wie heute niemals aufhörte, Stars zu entdecken und zu popularisieren.
Das einzige Äquivalent, das „Film-Telegramm“ in dieser Zeit hatte, existierte nur eine kurze Zeit, ruhmreiche Zeit. Egon Jameson, der damals noch Egon Jacobsohn hieß, gründete die inseratenlose „Film-Hölle“. Er hatte mit Briefen an die Leser von Publikums-Filmblättern, die immer mit einem faksimilierten „Egon“ gezeichnet waren, angefangen, bevor er für Ullsteins „B.Z. am Mittag“ Verantwortlicher wurde. Seine „Film-Hölle“ weigerte sich, Inserate anzunehmen und warnte sogar manche reklamesüchtige Lieblinge auf der Titelseite, das Blatt zu kaufen. Fern Andra, Lya de Putti und Pola Negri waren auf dem Zenit ihrer Karrieren, und Egon leuchtete mutig die Hintergründe ihres Ruhmes ab. Leider war sein journalistisches Abenteuer wie alle besseren Scherze vergänglich, und die „Film-Hölle“ ging ein. „Ejott“ Jaeger und der kürzlich verstorbene Regisseur E A. Dupont, der übrigens als erster kritisch über den Film in Tageszeitungen schrieb, wiederholten dasselbe Experiment, ein Fachblatt ohne Inseraten-Plantage zu machen, vor dem Kriege in Hollywood. Sie erlitten Schiffbruch. Die Industrie lässt nun mal nicht mit sich spassen und hat es nicht gern, wenn man ihr zu genau auf die Finger sieht.
Aber mit Wasser und geliehenen Geldern wurde auch damals nur gekocht, und die Wahrheit erfuhr man bestenfalls, wenn Firmen zusammenbrachen – ob es sich nun um die „Trianon“ oder die „Phoebus“ handelte. Lästige Kritiker, wie Heinz Pol oder H.G. Lustigdie wurden mit Hilfe von Inseraten-Entzugs-Drohungen umgebracht, und Sam Rachman zeigte seine Ankunft in Berlin mit ganzseitigen Annoncen an, bevor er im weißen Rolls-Royce durch die Friedrichstraße brauste. Über die Filmstraße von Berlin sollte man ein eigenes Kapitel schreiben, um zu demonstrieren, dass die sogenannte „gute, alte Zeit“ gar nicht so wunderschön war wie sie sich in der Erinnerung darstellt.
Film-Telegramm, 24. Juni 1958, Nr. 26