Christoph Winterberg

Christoph Winterberg

Im Mai 2018 schrieb Rolf Aurich im Zuge seiner Recherchen zu Dr. Alfred Bauer an Christoph Winterberg, den Inhaber des Antiquariats an der Donau in Neuburg. Winterberg war ein guter Bekannter des Gründungsdirektors der Berlinale gewesen und hatte nach dessen Tod der Kinemathek einen relativ unbedeutenden Teil des Nachlasses übergeben. Besaß Winterberg vielleicht noch weitere Stücke aus dem Nachlass, konnte er aus seinen Gesprächen mit Bauer etwas zu dessen Charakterbild beitragen? Auf diese Fragen bekam Aurich keine Antwort, der Brief kam als unzustellbar zurück. Wo war Christoph Winterberg? Vielleicht wusste der australische Sammler Bill Gillespie etwas?
Gillespie hatte bei seinen jährlichen Visiten in Deutschland immer wieder Filmplakate von Winterberg gekauft und teilte mit, dass er zwar im Juli 2017 mit Winterberg verabredet war, der aber nicht gekommen sei und telefonisch auch nicht zu erreichen war. Vielleicht war er ernsthaft krank oder gestorben – dann wäre aber doch etwas aus seiner sagenhaften Film-Sammlung aufgetaucht. Niemand wusste genaues über Winterbergs Sammlung; er selbst hatte in einem seltenen Moment von Offenheit erklärt, sie befände sich in einem Lager von 500 qm. Das sei aber inzwischen so voll, dass es darin keine Gänge gäbe und man nur noch über die Kisten klettern könnte. Zum Bestand äußerte er sich nur vage: 550.000 Standfotos, 60.000 Plakate, unzählige Bücher, 250 Drehbücher und natürlich Ephemera wie Film-Verschlussmarken und Preise seien vorhanden. Die Mengenangaben waren bestimmt nicht verlässlich; wie sollte man die Zahl der Fotos und Plakate ermitteln, wenn sie so gut wie unzugänglich waren? Und sollte das alles verschwunden, vielleicht auf der Müllkippe gelandet sein? Nein, so war es nicht, aber auch nicht weit davon entfernt. Und dafür war vor allem Winterberg selbst verantwortlich.

Wer war Christoph Winterberg?
Winterberg war in einem Maß verschwiegen, das schon an Skurrilität grenzte. Für einen Sammler war das ganz und gar untypisch; fast jeder Sammler redet gern und ausführlich über sein Sammlungsgebiet, über neue Erwerbungen und über andere Sammler. Nicht so Winterberg; niemand wusste etwas über sein Leben, seinen Wohnort, seine persönlichen Verhältnisse. Sein Eifer, möglichst unsichtbar zu werden, führte absurderweise dazu, dass seine Herkunft aufgedeckt wurde. Christoph Winterberg war der Adoptivsohn des Komponisten Hans Winterberg; seine Mutter Luise Maria Pfeifer flüchtete 1945 aus dem Sudetenland und gab bei der Geburt ihres Sohnes Christoph am 18. 10. 1945 in Esslingen am Neckar den Kunstmaler Oswald Pillhatsch als Vater an. Ob Christoph den Nachnamen seiner Mutter oder den seines Vaters trug, ist nicht klar. 1968 heirateten der Komponist Hans Winterberg und Luise Maria Pfeifer; der Komponist adoptierte seinen Stiefsohn Christoph, der immerhin schon volljährig war und nun den Namen Winterberg annahm. Warum änderte er seinen Namen? Hatte ihn seine Mutter darum gebeten, wollte er selbst einen neuen Namen? Und wenn ja, wie lautete der alte Name? Wir wissen es nicht.

Winterbergs Haus in Rennertshofen, Antoniberg

Hans Winterberg und seine Frau wohnten zunächst in Bad Tölz und zogen später in ein aufgegebenes Schulhaus nach Rennertshofen, Ortsteil Stepperg. Nach dem Tod seines Adoptivvaters und seiner Mutter übernahm Christoph das Haus und richtete dort sein Archiv ein. Im Februar 2002 verkaufte er den musikalischen Nachlass seines Vaters, des Komponisten Hans Winterberg, an das Sudetendeutsche Musikinstitut in Regensburg und schloss dazu einen bemerkenswerten Vertrag. Alle übergebenen Dokumente sollten bis zum 31.12. 2030 für jegliche, auch hausinterne Nutzung gesperrt sein. Ebenso dürfe die Existenz des Nachlasses und seine Herkunft unter keinen Umständen bekannt gemacht werden; Fragen nach Verwandten oder Nachkommen von Hans Winterberg müssten sämtlich negativ beantwortet werden, Winterberg selbst solle in allen Veröffentlichungen des Instituts als sudentendeutscher, aber keinesfalls als jüdischer Komponist bezeichnet werden. Diese letzte Bedingung kann als antisemitisch gedeutet werden, ist aber wie der ganze Vertrag eher Ausdruck von Paranoia und Verfolgungswahn – eben ein echter Winterberg. Eine Komposition kam nicht in den übergebenen Nachlass; auf ihrer Titelseite stand der Ortsname „Rennertshofen“, an dem nun auch Christoph Winterberg wohnte; das durfte natürlich keiner wissen. Dass die Konditionen des Vertrags vom Sudetendeutschen Musikinstitut akzeptiert wurden, ist eine Merkwürdigkeit für sich. Der Vertrag wurde auf Betreiben des Enkels von Hans Winterberg später aufgelöst; die Kompositionen von Hans Winterberg befinden sich bis heute im Original noch in Regensburg, sollen aber in die Sammlung exil-arte in Wien gehen. Langfristig werden dort alle Dokumente des Komponisten Hans Winterberg und seiner Familie konzentriert werden.

Einige Begegnungen mit Christoph Winterberg
Das erste Mal sah ich Christoph Winterberg am Leopold-Kino in München. Das war in den frühen 1970er Jahren, das Kino war noch nicht aufgeteilt in Leopold 1 und 2; Winterberg, daran erinnere ich mich genau, tauschte die Fotos in den Schaukästen aus. Ich nehme an, dass ich ihn öfters bei dieser Tätigkeit beobachtet habe; vielleicht habe ich auch ein paar Worte mit ihm gesprochen. Wenn er geantwortet hat, dann vielleicht „Hmm, kann sein“ oder noch kürzer „Hmm“ oder gar nicht. Ich ging damals viel ins Leopold und in das Filmmuseum im Stadtmuseum; Winterberg habe ich nie in einem dieser Kinos gesehen. Später hörte ich, dass er eine Zeitlang auch bei Transit-Film gearbeitet hat – wann, als was und wie lange? Keine Ahnung. Auf jeden Fall besaß er umfassende Kenntnisse zum deutschen Film; er mag zu den Sammlern gehört haben, die nie ins Kino gehen und alles nur aus der Literatur kennen. Mit der Literatur kannte er sich jedenfalls sehr gut aus.

Etwa Mitte der 1970er Jahre machte Winterberg seinen Filmladen in der Schelling/ Ecke Luisenstraße auf. Christoph stand an einem Tisch in der Mitte eines winzigen Raums; auf dem Tisch stapelten sich Plakate, hinter Christoph standen die Regale mit Büchern. Die wahren Schätze hortete er möglicherweise im Hinterzimmer, vielleicht hatte er sie überhaupt nicht im Geschäft, sondern in seinem Archiv. Wo war das Archiv, woraus bestand es, gab es Listen, konnte man ihn in seinem Archiv vielleicht besuchen? Die Antwort war eindeutig und immer: Nein, nein, nein. Es gab allerdings Ordner mit Kleinbildern von Plakaten der dreißiger bis siebziger Jahre und es gab tatsächlich einen Sammler, der mit Winterberg ein großes Tauschgeschäft gemacht hat. Manfred Christ hatte von dem Grafiker Boris Streimann zahlreiche Filmplakate geerbt oder einfach nur übernommen; das war eine sehr schöne, wenn auch grafisch etwas einseitige Sammlung. Christ tauschte die Streimann-Plakate gegen frühe und sehr seltene deutsche Nachkriegsplakate der Motion Picture Export Association. Diese Sammlung hat Manfred Christ, wenn ich das richtig erinnere, an die Friedrich Wilhelm Murnau Stiftung in Wiesbaden vermacht; und seitdem hat man nie mehr etwas von ihr gesehen. Eine Auswahl der Plakate von Boris Streimann gab Winterberg zur Auktion. Der Erfolg war eher bescheiden.

Dr. Alfred Bauer im Gespräch mit

Christoph Winterberg

Besonders gute Geschäfte wird Winterberg in seinem Laden nicht gemacht haben, aber darum ging es ihm vielleicht auch nicht in erster Linie. Er war Verleger geworden und hatte 1976 Alfred Bauers „Deutscher Spielfilm-Almanach 1929 bis 1950“ (plus erstmaligem Namenindex) als Reprint der ersten Ausgabe von 1950 (filmblätter Verlag) herausgebracht; 1981 folgte Band 2 für die Jahre 1946 bis 1955. Als letztes Buch im Verlag Winterberg erschien 1991 „Das Filmangebot in Deutschland 1895–1911“ von Herbert Birett.

Winterberg wollte seinen Verlag weiter ausbauen und verfolgte das Projekt eines Kataloges der in Deutschland bis 1945 erschienenen Filmplakate. Es gab ein Exposé und ein Treffen zwischen dem Direktor des Deutschen Filmmuseums Frankfurt, einem Mitarbeiter der Deutschen Kinemathek und Winterberg, und das war das Ende dieses Projektes. Das Deutsche Filmmuseum war nicht interessiert und blieb, als ein ähnliches Projekt von anderer Seite Jahre später noch einmal aufgerufen wurde, bei seiner Meinung. Nicht nur Winterberg war frustriert.
Ich hatte merkwürdigerweise über lange Zeit ein gutes Verhältnis zu Christoph. Ich zeigte und schenkte ihm einige Film-Verschlussmarken; dafür bekam ich das Buch „Kein Geistlicher hat ihn begleitet“, das Helmut Käutner 1956 unter dem Pseudonym Kong Li veröffentlicht hatte. Das war für ihn ein gutes Geschäft; er begann mir zu vertrauen, ließ mich sogar wissen, dass er einen Porzellanbambi in seiner Sammlung habe. Wir verloren uns aus den Augen, als ich nach Berlin zog. In der Wendezeit fuhr er in die DDR und organisierte u.a. einen ganzen LKW voller Plakate der DEFA. Wahrscheinlich stellte er sich vor, dass die Plakate im Lauf der Zeit gesuchte Sammlerstücke werden würden.
Um die Jahrtausendwende wollte er wie so viele Sammler in fortgeschrittenem Alter sich selbst und seine Sammlung versorgt wissen. In völliger Verkennung der finanziellen Möglichkeiten der Kinemathek machte er folgenden Vorschlag: Die Kinemathek möge ihm auf Lebenszeit eine Leibrente zahlen und eine Lagerhalle für seine Sammlung anmieten. Dann würde er mit allem, was er besaß, nach Berlin ziehen und die Kinemathek als Erben einsetzen. Er weigerte sich standhaft, eine Liste seiner Sammlungsstücke zu übergeben. Wenn es aber zu einer Einigung käme, dann könnte man ihn nach einzelnen Titeln, nach Fotos oder Plakaten fragen, und er würde diese dann temporär zur Verfügung stellen. Weiter konnte er einer Institution wirklich nicht entgegenkommen.
Das Abkommen kam nicht zustande. Jahrelang versuchte Christoph dann mit anderen Institutionen, unter anderem auch der Akademie der Künste, ins Geschäft zu kommen. Er hatte klare Vorstellungen über den Wert seiner Sammlung, aber er konnte sich nicht überwinden, seine Sammlung zu zeigen. Da es keine Bestandslisten gab, hätte er die Adresse in Rennertshofen preisgeben müssen. Und das wollte er auf keinen Fall.
Christoph Winterberg war ein Mensch voller Ängste, ein Hypochonder erster Güte. In einem Lokal suchte er sich eine Ecke, die möglichst nicht einsehbar war; als Getränk bestellte er sich Apfelsaft, war sich aber nie ganz sicher, ob der nicht vergiftet sei. Bei einem seiner letzten Treffen in einem Lokal mit dem australischen Sammler Bill Gillespie verließ er den Tisch, um auf die Toilette zu gehen. Bill holte sein Handy heraus, um etwas nachzusehen. Bei seiner Rückkehr herrschte Christoph seinen Gast an, er solle das Handy herausgeben und das Foto, das er von ihm gemacht habe, löschen. Gillespie hatte kein Foto gemacht.
Winterberg war in dauernder Angst vor Anschlägen, vor Verunglimpfungen und öffentlichen Beleidigungen. Allein die Erwähnung seines Namens war schon verdächtig; sofort konstruierte er ein gegen ihn gerichtetes Komplott. Nähe ließ er nicht zu, gleichwohl suchte er Kontakt. Eine Zeitlang rief er mich jeden Samstag oder Sonntag zu Hause an; er wollte nichts Besonderes, nichts Konkretes – nur reden, reden.
Jahre später nahm er eine Lappalie zum Vorwand, um sich mit mir zu zerstreiten. Er hatte groteske Vorstellungen, wie ich meinen Fehler wieder gutmachen sollte. Aber noch besser: Es gab einen neuen „besten Feind.“

Das Ende des Christoph Winterberg
Ich weiß nicht genau, wann er sich aus der Szene der Filmsammler zurückzog. Man trank dort gerne ein gutes Bier miteinander, man schwätzte, handelte und machte auch Witze übereinander. Das alles war nichts für Christoph, der in der Szene „Caligari“ genannt wurde. „Caligari“ war nicht witzig, „Caligari“ nahm ernst und übel. Christoph löste sein Geschäft in der Luisenstraße auf und eröffnete ein Buchantiquariat in Neuburg an der Donau, unweit von Rennertshofen. Eine Zeit lang kam er damit über die Runden und verkaufte auch noch an Filmsammler. Bill Gillespie erzählt, dass Christoph jedes Gespräch mit einer Schimpftirade auf die Filminstitutionen begann. Er sah sich als freischaffenden Filmarchivar, dem die Institutionen dankbar sein sollten. Hatte er sich nicht all die Jahre für den Film aufgeopfert? Natürlich blieb auch die Drohung nicht aus, dass er seine Sammlung vernichten werde – das war letztlich eine Geste der Hilflosigkeit und Ohnmacht. Und jedes Gespräch, jede Verhandlung mit ihm stand unter dem Vorbehalt, dass ihm zunächst und als Grundbedingung eine wie auch immer geartete Entschädigung für erlittenes Unrecht zustünde. Als ich ihn das letzte Mal 2012 bei der Eröffnung der Ausstellung „Licht und Schatten“ in den Räumen der Hypo-Vereinsbank in München sah und mit einem Handschlag begrüßen wollte, wandte er sich an den neben ihm stehenden Herbert Birett: „Meinst Du, dass ich dem Sudendorf die Hand geben soll?“ Birett war überrascht und redete ihm zu: „Ja, das kannst Du doch.“ „Na, wenn Du meinst“ und reichte mir maliziös lächelnd seine Hand.

Lagerraum Antoniberg

Er war allmählich im Paradies aller Quengler und Besserwisser angekommen. Die Geschäfte wurden weniger, ein grosser Verkauf noch für ca. 100.000 Euro – natürlich viel zu wenig – und dann hörten sie ganz auf. Christoph zog sich in sein Haus zurück, in sein kleines, großes Reich aus Bananenkisten. Er hatte auch Spielfilme gesammelt, fast alle in 35 mm. Damit nur niemand herausbekam, welche Filme er besaß, hatte er an den Dosen die Seitenbeschriftung entfernt. Damit übertraf er wirklich jeden Sammler an Merkwürdigkeit. Sein Neffe hatte ihn ausfindig gemacht, ihn zu Hause besucht, das Erbe von Hans Winterberg geregelt und sich über die Unmenge an Bananenkisten gewundert. Christoph erklärte ihm, das sei ein veritabler Schatz und eine Million Euro wert. Aber en detail verkaufen wollte er nicht mehr.

Sterbeurkunde Christoph Winterberg

Ein Polizist hatte mit ihm Bekanntschaft geschlossen und besuchte ihn seit Ende der achtziger Jahre. Christoph musste mit dem Geld sehr haushalten, Strom, Wasser und Heizung funktionierten nur unregelmäßig. Er war abgemagert und wohl auch krank und bewohnte in seinem Haus nur noch einen Raum. Am 20. Februar 2018 fand der Bekannte seinen Leichnam; auf dem Körper lagen zwei Bananenkisten, die sich ineinander verkeilt hatten. Hatte ihn seine Sammlung erschlagen und war er zu schwach, die Kiste von dem Körper zu entfernen? Das Todesdatum konnte nicht genau festgestellt werden; es lag zwischen dem 9. und dem 20. Februar 2018.
Es fand sich ein Testament, in dem der Polizist als Generalerbe eingesetzt war. Der Generalerbe tat, was er und wahrscheinlich jeder andere für das Beste hielt. Er verkaufte einen großen Teil der Bananenkisten sowie die Filmkopien an einen Film-Devotionalien-Händler. Die Filmkopien wurden gleich weiterverkauft, die Bücher bekam ein Internet-Antiquar. Und gab es denn nun einen Restnachlass Alfred Bauer, vielleicht mit einem Tagebuch aus seiner Zeit in der Reichsfilmintendanz? Vielleicht, ja, kann sein – vielleicht ist er auch vernichtet, in den Müll geworfen, schmort noch in unausgepackten Kisten. „Hmm, wer weiß?!“

Winterbergs Körper, so war es im Testament bestimmt, wurde verbrannt, die Asche in der Ostsee verstreut.

Es halfen: Rolf Aurich, Frank Becker, Bill Gillespie, Helmut Hamm, Henrik Krasemann Peter Kreitmeir, Hans-Peter Reichmann, Fritz Tauber, Christian Unucka.

Zu Hans Winterberg: https://forbiddenmusic.org/2015/06/10/the-ominous-case-of-the-hans-winterberg-puzzle/
Website von Peter Kreitmeir: www.kreitmeir.de