So interessant Ihr Vorschlag ist, die Filmmanuskripte mehreren Filmfabriken zur Aufnahme zu übergeben, so dass, wie im Theater, der Film von den verschiedenen Filmschauspielern dargestellt wird, so glaube ich leider nicht an die Verwirklichung dieser Idee; denn die Filmfabrik verhält sich zum Filmmanuskript nicht so wie das Theater zum Dramenmanuskript. Der Weg des Dramenmanuskriptes ist im allgemeinen folgender: Die Herstellung des Buches durch den Verleger, die Aufführung durch ein oder mehrere Theater. Der Weg des Filmmanuskriptes dagegen ist ein anderer. Das Filmmanuskript geht direkt zum Filmfabrikanten; der Filmfabrikant führt den Film „aus“, das Filmtheater führt den Film „auf“. Was beim Theater ein Organ ist, zerfällt beim Film in zwei Stationen. Nun sind die Unkosten nicht, wie beim Theater, am größten bei der Aufführung (die Aufführungskosten sind verhältnismäßig sehr klein), sondern bei der Fabrikation, d.h. bei der Ausführung. Eine mehrfache Ausführung durch verschiedene Regisseure und durch verschiedene Filmdarsteller würde die Unkosten in einer ganz anderen Weise vergrößern als es etwa beim dramatischen Werke wäre.
Das von Ihnen gewünschte Experiment, den Film von verschiedenen Darstellern zu sehen, würde nie erreicht werden, denn die großen Filmtheater sind ökonomisch wieder abhängig von den großen Filmfabriken. Sie würden niemals den Konkurrenzfilm der kleinen Fabrik dulden. Mir dagegen scheint es möglich zu sein, den Einfluss des Publikums und der Presse auf einem ganz anderen Wege zu verstärken. Bisher geht das Filmmanuskript direkt an den Filmfabrikanten. Es gibt keine Nachkontrolle, ob die Filmfabrikanten ein wertvolles Manuskript ablehnen oder nicht. Anders beim dramatischen Werk. Der gewöhnliche Gang ist dort, dass das Manuskript zuerst gedruckt wird. Das Buch erwirbt sich Freunde, und so übt langsam das Publikum einen Druck auf die Theaterdirektoren aus, das Stück aufzuführen. Es ist ein Irrtum, dass der der Theaterdirektor den Dichter im allgemeinen heranzieht. Der Dichter wird ihm empfohlen durch die Mitarbeit von Publikum und Presse. Wedekinds Frühlings Erwachen ist im Jahre 1891 geschrieben, wenn ich mich nicht irre, und im Jahre 1902 zum ersten Male aufgeführt worden. Büchners Wozzek sowie unendliche Beispiele aus der klassischen Literatur beweisen immer wieder dasselbe. Deshalb scheint mir der einzige Weg, das wertvolle Filmmanuskript zur Geltung zu bringen, der zu sein, dass die Filmmanuskripte zunächst gedruckt werden und dadurch der Kritik und dem Publikum bekannt gemacht werden. Dann wird der Einfluss des Publikums und der Kritik einsetzen. Es ist bekannt, dass die meisten Theaterdirektoren ganz vorzügliche Stücke immer abgelehnt haben, weil sie erklärten, die Stücke wären literarisch interessant, aber nicht theatermöglich. Erst der Einfluss des Publikums musste sie eines besseren belehren. Beim Film ist das nicht der Fall. Deshalb ist beim Film der gute Autor einfach ausgeschlossen. Die Filmfabrikation wendet sich wohl dann und wann an einen berühmten Autor, niemals an ein junges Talent, denn ein junges Talent wird immer versuchen, die Konvention zu erweitern oder zu zerbrechen, ebenso wie es die jungen Talente beim Theater stets gemacht haben. Die produktive Befruchtung des Theaters wie des Theaterdichters entsteht durch diesen Kampf zwischen Konvention, deren Hüter der Theaterdirektor ist, und dem anstürmenden Dichter, dem die Hilfstruppen der Liebhaber und der Kritiker zur Seite stehen.
Die Befruchtung ist nicht eine einseitige. Ebenso wie dem Theater und dem Film auf diese Weise neue Ideen zugeführt werden, wird dem Theaterdichter oder dem Filmdichter die Kenntnis oder das Bedürfnis des Theaters und des Films bekanntgegeben. Nur aus dieser Wechselwirkung scheint es mir möglich, wenn es überhaupt zu erreichen ist, dass der Film den gewöhnlichsten Machern aus den Händen gewunden wird und in die Hände der wirklichen Dichter gerät. Das würde eine vollständige Umwälzung bedeuten, denn dann tritt der Filmdichter an die Stelle des Filmmachers. So würde auch der wirkliche Filmschauspieler an die Stelle des Filmmodells treten, und mehr sind ja in Wirklichkeit unsere Filmstars nicht. Der Weg, den ich für den richtigen halte, ist eben der Druck des künstlerischen Filmmanuskriptes.
Ich habe mit der Herausgabe von Hasenclevers Pestfilm diesen Weg betreten, und ich werde versuchen, durch Herausgabe von Filmen junger Autoren wie Edschmid und anderen das einmal Angefangene weiter fortzusetzen.
Nationalzeitung – 8 Uhr Abendblatt. 17. 7. 1920
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Die Uraufführung von Paul Wedekinds „Frühlings Erwachen“ fand am 20. November 1906 an den Berliner Kammerspielen statt.
Walter Hasenclever: Die Pest. Ein Film. Paul Cassirer, Berlin 1920.