Klaus Pringsheim: Musikalische Filmzukunft (1924)

Mit der üblichen Kinomusik geht es nun wirklich nicht mehr. Das Problem „Künstlerische Filmmusik“ – als Teilproblem der Filmkunst – ist erkannt, ist anerkannt; die Einsicht, dass Musik Teil des Filmwerks, nicht Zutat der Vorführung, Sache der Produktion, nicht erst des reproduzierenden Theaters zu sein hat, beginnt zu dämmern; das musikalische Gewissen der Produktion ist erwacht.
Noch ist Filmmusik unentdecktes Neuland; aber der Wille, es zu entdecken, regt sich, der artistische Reiz unerschlossener Probleme übt seine Wirkung. Unnütz, heute die Ästhetik der kommenden Filmmusik ergründen zu wollen; nur aus Beispielen, Versuchen, Irrtümern werden Regeln, wie es zu machen und wie es anders zu machen, sich gewinnen, werden Gesetzmäßigkeiten des filmmusikalischen Geschehens sich abstrahieren lassen. Wir sind heute dabei, Erfahrungen zu sammeln. Und wir erfahren, das weit problematischer als das Problem der Komposition die praktische Frage der Ausführung und der Verbreitung ist; die Schwierigkeiten, die kompositorische Aufgabe zu lösen, sind, um die Wahrheit zu sagen, eine Bagatelle, gemessen an den Schwierigkeiten, die dem Komponisten gemacht werden.
Alles künstlerisch Neue, Gottseidank, hat die Tendenz, sich durchzusetzen, muss die Kraft haben, sich nicht sabotieren zu lassen. Solche Tendenz, das Neue zu sabotieren, besteht allemal – es ist der passive Widerstand der Trägheit, Bequemlichkeit, Gewohnheit, verstockten Ungeistigkeit. Wer vertritt, wer übt, wenn es um Filmmusik geht, diesen Widerstand? Selbstverständlich nicht der Produzent, der Geld und Mühe aufgewandt hat, die Musik schreiben und (für die Uraufführung) einstudieren zu lassen. Selbstverständlich das Theater, dem das weitere Schicksal des Films überantwortet ist. Welchen Grund, fragt sich dessen Direktor, denn er ist, was den Ernst und die Reinheit seiner künstlerischen Ziele betrifft, ein gehobener (Ins Großunternehmertümliche gehobener) Schaubudenbesitzer – welchen Grund hätten wir, dem Publikum, dass sich bei der bisher üblichen Sorte Musik wohl fühlt, höhere musik-künstlerische Bedürfnisse beizubringen?
Gewiss, das Publikum hätte schließlich nichts dagegen, all den abgestandenen Unfug sich abgewöhnen zulassen, die ewigen Butterfly-Potpourris, die kitschig missbrauchte H-Moll-Sinfonie, das wahllos, stillos, gewissenlos zusammengestellte Zeug, den Schund, den Ersatz, dies einförmige Kunterbunt widerkünstlerischer Unzulänglichkeit. Nur eben: man gewöhnt es ihm nicht ab. Das Filmtheater ist keine kunst-moralische Anstalt. So denkt, wenn er denkt, der Direktor. Welchen Grund also hätte sein Kapellmeister, sein Orchester, besondere, ungewohnte Anstrengung aufzubieten? (Obgleich es nicht immer die schlechtesten Musiker sind, die sich heute aus der Verelendung ihres Standes in den sicheren Unterstand des Filmtheaters geflüchtet haben.)
Darum keinen Vorwurf gegen den Filmtheatermann, sein Standpunkt ist logisch und ehrlich, er heuchelt nicht Prätentionen, die ihm das Geschäft verwirren würden; er ist kein Mäzen, er ist ein Kaufmann, der mit Filmreproduktionen handelt, und kennt nur ein Argument: Gangbarkeit der Ware. (Darum auch nur: Musik, wie sie dem kaufenden Publikum eben recht.)
Künstlerische Verpflichtung bleibt in den Bezirk der Fabrikation gebannt. Wie also, soll in Zukunft der Fabrikant sich ausbedingen: diesen Film nicht ohne diese Musik-? Vielleicht ließe, von Fall zu Fall, ein Theater mit sich reden, würde, um der Films wegen (selbstverständlich nicht: um der Musik willen), die Musik in Kauf nehmen. Aber wann hat der Produzent Gelegenheit, mit Theater zu reden? Zwischen Produktion und Reproduktion schiebt sich, vermittelnd, trennend, der Verleiher; der sorgt dafür, dass von allen künstlerischer Ambition, die der Fabrikant seinem Erzeugnis vielleicht mit auf den Weg gegeben, nichts übrig bleibt. vielleicht

Der Verleiher – mit seinen Zielen verglichen sind die des Filmtheaters heilig-ernsteste Kunst – die Welt ist ihm Absatzgebiet seines Artikels, und er hat sie in Rayons erteilt; das ist alles, was er von der Welt wissen will. Musik? Gott soll schützen (Gott schütze alle Musik vor Filmverleihern).
So geht es nicht, und so geht es nicht. Aber irgendwie, trotz allem, wird es gehen müssen. Das Neue – heute kann es nur, mit einem lächerlich unzureichenden Schlagwort, „künstlerische Filmmusik“ genannt werden – das Neue wird sich durchsetzen, wird sich nicht von sekundären Widerständen unterdrücken lassen. Eines Tages wird irgendeine Filmmusik, Gott weiß, welcher Richard Strauß sie schreiben wird, „Erfolg“ haben, die Leute reden mehr von der Musik als vom Film, die Theater drängen sich, sie zu spielen, und am Ende ist sie gar ein Objekt für Verleiher geworden, dann werden, über Nacht, Filmpublikum und Filmindustrie ihr musikalisches Gewissen entdeckt haben. In der Tat: wird dies geschehen? Noch lockt Filmmusik den Musiker fast nur als artistisches Abenteuer. Fraglich ist, ob der Film je die werkende Kraft besitzen wird, die Musik der Zeit in seinen Bereich zu zwingen. Er wird die entscheidende Anstrengung nicht scheuen dürfen; oder die Filmmusik, die noch immer nur Verheißung, kommende Kunst, ein Stück Zukunft ist, geht an ihrer Ohnmacht zu Grunde: An ihrer Ohnmacht, die Musik auszulösen, ohne die, nichts für ungut, sie bestenfalls eine halbe Sache bleibt.

8 Uhr Abendblatt, Berlin, 9. Januar 1924, Nr. 7