Gestern stand Ida Wüst vor der Entnazifizierungskommission
Vorbemerkung: Leider konnte ich keine Rechtsnachfolger von S. S. von Varady ausfindig machen. Der Text erscheint deshalb vorläufig ohne rechtliche Absicherung.
Eine weitere Reportage über dieses Verfahren erschien im SPIEGEL vom 27. 9. 1947 – https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-41121975.html
1949 wurde Ida Wüst in einem erneuten Verfahren als entlastet eingestuft.
Der Feuerwehrball von Groß-Glienicke wurde diesmal in der Schlüterstraße abgehalten. Ida Wüst versuchte sich zu rehabilitieren. Die holde Ida, inzwischen ein zittrig – trippelndes Muttchen geworden, kam mit der Hautevoléé von Groß-Glienicke, mit dem früheren Bürgermeister und dem heutigen. Ida entpuppte sich al die größte Wohltäterin des Planeten. Von Juden und Verfolgten hatte sie keinen vorgeladen. Aus Takt.
Mir ist beinahe übel geworden. Doch Ida hielt stand. Eine Krankenschwester mit Kölnisch Wasser, ein früherer Journalist mit Rotem-Kreuz-Bonbon als Schulterklopfer und Beschwichtiger und mehrere Stimmungsmacher standen ihr zur Seite. Jeder wankte am Ende der fünfstündigen Verhandlung, nur Wüst war unverwüstlich
Ida, die Wohltäterin von Groß-Glienicke.
Ihre alte Portierfrau erzählte, dass sie eine feine Dame sel. Sogar Juden durften sie über die Hintertreppe besuchen. Dafür zitierte eine andere Dame einen Brief der Wüst: Saujuden, schrieb sie damals, worauf die Wüst in Schreikrämpfe ausbrach und einen Aktschluss lieferte, dass die Wände wackelten.
Es war überhaupt eine Wucht, was Gross-Glienicke an Zeugen aufbot. Der Herr Bruder von Frau Wüst, alter SA. Obergruppenführer, niedlicherweise wegen Rassenschande anderthalb Jahre eingesperrt, bebte vor Aufregung. Er war das schwarze Schaf in der Familie, erklärte er, nicht die Ida. Er war der Nazi, nicht die Ida. Zwei Damen behaupteten dagegen, dass Frau Wüst sogar eine Denunziantin sei. Der Gestapo-Beamte Mikisch hatte von der Wohltäterin Ostereler bekommen und schrieb ihr treu und brav über die Verhaftung der Zeugin und wünschte zum Schluß der gnädigen Frau Ida fröhlichen Lämmchenbraten. Ein korrekter Beamter, sagte sachte die Schwester von Frau Wüst. So eine Schwester habe ich mir immer gewünscht. Die Verhaftete saß inzwischen in Ravensbrück und bekam alles andere als Ostereier.
Unangenehme Zeitungsartikel und kleine Grüße in Verschen wurden auch vorgelesen. Herr von Winterstein teilte schriftlich mit, dass die Wüst dem jüdischen Theaterdirektor Meinhardt statt Unterstützung den Rat erteilte, den Fluch seiner Rasse zu tragen. Ohne Ostereier. Mal fluchte die Wüst, mal lachte sie, je nachdem.
Während der ganzen Verhandlung herrschte eine unerfreuliche, klebrige Atmosphäre. Kaffeekränzchen-Solidarität. übler Dorfbrunnenklatsch, gehässige Blicke und unterdrückte Verwünschungen schwirrten in dem Saal umher. Man feierte die Volksschauspielerin als Opfer der Demokratie. Vorher klaute noch schnell jemand aus dem klatschenden Publikum die Handtasche einer Zeugin. Zum Glück trug sie ihren dreikarätigen Brillantring auf dem Finger.
Nachdem der Vorsitzende Vogel zweimal gegurgelt und wegen der Übelkeit einige Natronpillen geschluckt hatte, verkündete er die Ablehnung. Wenn nicht, dann nicht, dachte sich die Wüst und wackelte lächelnd aus dem Saal.
Bilanz? Fünf Stunden lang saß ich unbequem und eingepfercht. Nur der Anblick einer bezaubernden rothaarigen jungen Dame erleichterte mein Dasein. Verkappte Spießbürger, Nutznießer und Heutemichmorgendich-Figuren waren in der Mehrzahl. Hätten sie tun können, was sie dachten, hätten sie uns wohl alle verprügelt. Sogar ein Herr aus Indien, mit Turban und dickem Bauch, hat sich die Verhandlung angesehen. Am Ufer des Ganges wird er erzählen können, wie die Wüst eine heilige Ida ist und wie sle dagegen war. Dort glaubt man es. Und in Groß-Glienicke.
S.S. Von Varady in Der Abend, 20. September 1947