Edmund Edel: Wie Berlin Kinostadt wurde (1926)

Edmund Edel

Irgendwer erzählte von diesen springenden Bildern, die Lebendes auf eine Leinewand projizierten. Man hatte so ähnliches auf Jahrmärkten, Vogelwiesen gesehen. Spaßeshalber. Wie man sich den Genuss der Dame ohne Unterleib oder des feuerfressenden Indianers leistete. Bis eines Tages oder vielmehr eines Abends (eines späten, sehr späten Abends, dieweil man im Cafe Größenwahn erst zu sehr vorgerückter Stunde sich zu geistigem Zusammensein traf)… bis also jemand von einem Kino erzählte, drinnen in der Stadt. Im Norden oder im Osten. Jedenfalls wurde Neugier erregt. Die Neuerer (wir alle waren Neuerer, Kämpfer, Draufgänger) enthusiasmierten sich, da der eine oder andere von seiner Entdeckungsfahrt erzählte: eine kleine Bude, schmal wie ein Handtuch, die Menschen dichtgepökelt, hinten eine Leinewand. Schließlich eine Art vergrößerte Laterna Magica, wie wir sie aus fröhlich-seliger Kinderzeit im Gedächtnis hatten. Aber wirkliche Menschen huschten an uns vorüber, gebärdeten sich in lustigen und tragischen Posen, spielten wie auf dem Theater Das war das Neue, Imponierende. Etwas, das auf Zukunft weisen konnte.

Wir wallfahrten aus dem Westen, der für diese derbe, naive Volksbelustigung (naiv im Sinne verderbten Snobtums) zu vornehm war, in die Chausseestrasse, wo, wie ich mich zu erinnern glaube, ein winziges Kinotheaterchen sein bescheidenes Dasein fristete. Von zehn Pfennigen aufwärts. Der feinste Platz vierzig oder fünfzig Pfennige. Der Ausrufer eingeschlossen. Der Ausrufer brüllte Nummern der Billette. „Numero 17 ist abgelaufen!“ Der Inhaber eines Billetts mit dieser Nummer musste seinen Sitz räumen, widrigenfalls er noch einmal zu zahlen gezwungen wurde.

Nach Nr. 17 ging das Spiel weiter: volkstümlicher Humor, tränenreiche Rührballaden, gefilmt Moritaten. Der Ausrufer erklärte: „ … Die Jräfin hat also das Kind jeraubt und der alte Jraf is darieber waaahhnsinnich jeworden … hier könnenSe sehn, meine Herrschaften – – -“ (Von einer Gräfin wollte man es damals ebensowenig wissen wie heutzutage) … „
Ein Ereignis von großer Tragweite war die Eröffnung des ersten Uniontheaters am Alexanderplatz. Als man von der Riesenfläche, auf der die Bilder in Überlebensgröße sich zeigten, Kunde brachte, zogen wir in Scharen den weiten Weg, um das Wunder zu erleben. Noch stehe ich, wenn ich zurückdenke, unter dem Banne des ersten amerikanischen Sensationsfilms: Mord und Totschlag, ein rasender Eisenbahnzug (welche Perspektive für Naturaufnahmen!), ein mannshoher Safe, in dem die Sekretärin, die die Tochter des Mannes war, der den jungen Liebhaber nicht zum Schwiegersohn wollte, eingeschlossen wurde. Atemraubende Verfolgung. Der Eisenbahnzug. Die erstickende Sekretärin. Das Nummernschloss, dessen Auflösung kein anderer wusste als der Vater selbst – – Für uns ,,Geistige“ (oder klingt Intellektuelle besser?) war das Problem gelöst: Volkskunst. Diese neue Kunst gab zu denken. Für und Wider wurden aufgeworfen. Die Hochnäsigen (die ganz wasserdichten Intellektuellen) wiesen den „Kintopp“ mit leichter Geste von sich ab: Aschingerkunst, Proletenspeise. Courts-Mahler war noch nicht erfunden. Sonst hätte man auch diese beglückende Schriftstellerin in einen Topp mit dem Kintopp geworfen.

Plötzlich gab es eine Filmbranche. Eine „Branche“, wie es eine Blusen-, Konfektions-, Automobil- oder Lebensmittelbranche gibt. Man fabrizierte Films. Einer der ersten war Meßter, der die neue Technik mit künstlerischem Beiwerk zu versehen bestrebt war: Meßters lebende Lieder. Diesen Anfängen der Aufnahmemöglichkeiten hatte ich einmal beizuwohnen Gelegenheit. Irgendeine Zeitschrift wollte von mir ein Referat über Girardi, der gerade in Berlin war. Ich erwischte den berühmten Schauspieler und Volkssänger bei seinem Schlager, dem ,,Fiakerlied“. Oben im Friedrichstraßenatelier Meßters, in einer kleinen von Jupiterlampen erstrahlten Koje stand Girardi im Frack, sang und mimte seinen klassischen Fiakerkutscher einem unsichtbaren Publikum vor. Girardi sagte mir nach der Aufnahme, dass er vor so einem teilnahmslosen Auditorium noch niemals seine Kunst losgelassen hätte, er, der vor Allerhöchsten, Höchsten und Minderhöchsten Herrschaften sich zu produzieren gewohnt war. ,,Aber wissen’s, solchene Angst, wie vor dem Kasten da, hab‘ ich halt noch nie verspürt …“ versicherte er, nachdem die Operation erledigt war.

Inzwischen ist der kleine Kurbelkasten das Auge der Welt geworden. Seitdem Girardi vor ihm sein Fiakerlied geschmettert, hat sich vor diesem Kasten die ganze Erde gespreizt, gebrüstet und wichtig getan.

Der Westen Berlins wurde erst allmählich vom Kintopp erobert. Berlin W lächelte über dieses harmlose Vorstadtvergnügen. Historiographen streiten sich, wer zuerst im heutigen westlichen Kinoparadies Berlins die Flimmerwand aufgespannt hat: das kleine Tauentzientheater oder die Kantstraßenolympia. Bald jedoch wurden diese beiden Kinooasen vom ersten Prachttheater, dem Kurfürstendamm U. T. überholt. Die Eröffnung dieses Palastes im Jahre 1912 schlug wie eine dicke literarisch-künstlerische Bombe ein und machte das Kino über Nacht gesellschaftsfähig. Hatte doch der berühmte Reinhardt den ersten Film, der in diesem Hause lief, selbst gedreht (Die Insel der Seligen, ein Film, der in Venedig aufgenommen und leider Max Reinhardts einziger Versuch auf dem Gebiete der Kinematographie geblieben war). Kino und Film rückten mit einem Schlage in die Diskussion, man konnte die Bewegung nicht mehr ohne weiteres abtun. Leute von Geist und Leute, die den Geist bei anderen entlehnten, entdeckten die hohe Mission des Films und strömten in die eleganten Kinotheater, um sich für die Spanne kurzer Stunden von der Hast des Tages auszuruhen, sich mühelos in die Ferne traumersehnter Länder führen zu lassen, sich an den Sensationen kriminalistischer, sozialer, seelischer Konflikte zu erregen oder durch die Erschütterung ihres Zwergfells durch groteske und humorige Klownerien ihre Nerven aufzufrischen.

Ein schneller Weg vom Vorstadtkino zum Prunkpalast: in kaum zwei Jahrzehnten wurde Berlin zur größten Kinostadt.

Deutsche Filmwoche, Berlin, 30. April 1926, Heft 18