Im Marmorsaal des Zoologischen Gartens gab’s (am Sonnabend) beim „Fest des Nosferatu“ eine Ouvertüre, ein Vorspiel, ein Filmspiel, ein Tanzspiel und ein Nachspiel, bestehend aus Tanz und Tombola, aus Karussellfahrten und Filmaufnahme. Das im Programm vorgesehene Zwischenspiel wurde dem Publikum durch eine ebenso rücksichts- wie einsichtsvolle Festregie erspart. Wer sich dadurch um einen Genuss gebracht fühlte, konnte es zu Hause nachlesen. Es begann mit den Worten: “Gottlob, es ist vorbei, ist überstanden.“
Leute mit schwachen Nerven werden das auch von dem Prana-Film „Nosferatu“ gedacht haben, zu dem Henrik Galeen sich durch den englischen okkultistischen Roman „Dracula“ von Bram Stoker hat anregen lassen. Aber gerade in der Spuk- und Gruselstimmung, die von diesem Film ausgeht, in den schwarzen Schatten, die gespenstisch über die Leinwand geistern, in den Angsttraum-Zuständen und der magischen Verkettung der Dinge liegt die bannende Wirkung dieser „Sinfonie des Grauens“, die allerdings um zwei Sätze zu lang geraten ist. Wie im „Caligari“ kein objektiver Tatbestand geschildert wird, nicht die Perspektive vom Zuschauerraum aus, sondern die Welt als Wille und Vorstellung eines Irren, so sind auch hier innere Erlebnisse nach außen projiziert. Und es ist in erster Linie das Verdienst des Regisseurs F.W. Murnau, wenn es gelungen ist, unkörperliches Grauen sichtbar zu machen, Geistererscheinungen glaubhaft zu materialisieren, Seelisches, sinnlich Wahrnehmbares Wirklichkeit werden zu lassen.
Nosferatu ist ein Abkömmling Urians, ein Schreckgespenst der Hölle: der aus den Blutsünden der Menschheit geborene Vampyr. Ein unheimlicher Geist, manifestiert in der Gestalt des Grafen Orlock, der auf seinem Spukschloss nachts dem Grabe entsteigt, um Lebenden das Blut auszusaugen und dessen „Erlösung“ nur durch die Hingabe einer reinen schuldlosen Frau ermöglicht wird.
Dieser Grundgedanke (und das ist vielleicht ein Mangel des Films) wird nun nicht dramatisch gesteigert, sondern episch (allerdings restlos) ausgewertet. Eine Film-Ballade, deren volksliedhafte Primitivität durchsetzt ist mit der raffinierten Phantastik und Mystik E.A. Poes, Meyrinks und E.T.A. Hoffmanns. Die verschmelzung dieser Elemente zu künstlerischer Geschlossenheit, die Vereinigung zum Spannungs- und Stimmungsgehalt war nur zu erreichen durch inniges Zusammenarbeiten von Autor, Regisseur und Maler-Architekt (Albin Grau). Und es spricht für den Film, dass es fast unmöglich ist, das Tätigkeitsgebiet des einzelnen abzugrenzen. Über die Darstellung später. Nur die Trickaufnahmen scheinen mir nicht ganz geglückt zu sein. Wenn der Totenwagen durch die wilden Schluchten der Karpathen holpert oder der Vampyr huschend Sarg auf Sarg türmt, so wird gewissermaßen illusionszerstörend der technische Apparat sichtbar. Im Übrigen aber ist die unheimliche Atmosphäre erschreckend echt fühlbar gemacht. In den öden Fensterhöhlen verfallenden Gemäuers wohnt das Grauen. Lautlos sich öffnende Türen führen in schreckhaftes Dunkel. Der Werwolf brüllt durch die Finsternis. Aus Gespensteraugen schießen leuchtende und lähmende Blitze. Unheimlich gleitet das Geister-und Totenschiff durch die Brandung. Selbst die Natur ist wie von einem Zauberstab angerührt. Das Meer ist aufgewühlt, Wolken ballen sic drohend. Der Wind wütet durch die tote Stadt, vorbei an geschlossenen Fensterläden, an Häuschen, deren Türen Totenkreuze tragen, durch Straßen, die angefüllt sind mit endlosen Leichenzügen. Der Vampyr geht um …
Der Vampyr ist Max Schreck, leider nicht ganz so schreckhaft wie sein Name. Es fehlt die Besessenheit, die etwa Krauß oder Conrad Veidt für diese Rolle mitgebracht hätten. Seine Dämonie ist Maske, weniger Spiel. Alexander Granach spielt einen Irren, leidenschaftlich, voll satanischer Gier, mit skurrilen Einfällen. Die Lichtgestalten in diesem Nachtstück sind Gustav von Wangenheim (ein friascher Junge, mutig, sonnig, berherzt) und Grete Schroeder, deren Gestalt mehr von Licht umflossen sein könnte, die aber die stumme Angst um den fernen Geliebten ergreifend schildert.
Hans Erdmann hat die Stimmungen des Films mit seinem Empfinden musikalisch untermalt, und er hat auch die Musik zu dem Tanzspiel „Serenade“ geschrieben, in dem Elisabeth Grube von der Staatsoper versuchte, dem gefilmten Mysterium einen heiteren Ausklang zu geben.
BZ am Mittag, 6. März 1922, Nr. 65